PR TB 159 Insel Der Ungeheuer
einsame Leben machte ihr nichts aus. Vögel
zwitscherten in den Zweigen und weckten sie, dieselben Vögel
würden ihr auch die Gefahren anzeigen. Früchte, Beeren und
wilde Oliven, Pilze und -Blumen. das alles gab es einen Bogenschuß
weit im Kreis. Die Klippen waren keineswegs einladend, aber sandiger
Strand war leicht erreichbar. Sie hatte inmitten des Inselparadieses
ein winziges Reich für sich allein geschaffen.
Die ersten dreißig Tage waren ausgefüllt gewesen mit
vielen Arbeiten.
Der nächste Viertelmond gehörte dem Schlaf und der
Erholung.
Und die nächste Zeit war ausgefüllt mit Träumen,
Tagträumen und den Träumen in den lauen Nächten des
frühen Sommers.
Niemand sah das Mädchen, wenn sie auf dem Moos vor der Höhle
saß, die Beine angezogen, das Kinn auf den Knien und die
Unterarme vor den Schienbeinen gekreuzt. Sie blickte auf die blaue
Fläche der See.
Die Möwen schwangen sich hinauf und stürzten in
verwegenen Bahnen hinunter auf den Strand. Salziger Gischt entstand
auf den Felsen und löste sich wieder auf. Hinter dem Wald färbte
sich der Himmel rosenfarbig. Lichtfinger schossen hinauf zu den
langgestreckten Wolkenbänken im Osten.
Durch das taufeuchte Moos vor der Höhle und das nasse
Strandgras führte eine schmale Spur über die von den
Jahrtausenden gerundeten und abgeschliffenen Felsen. Die Fußspur
folgte der natürlichen Stufung der Felsentreppen und verschwand
dann. Sie kehrte drei Sprünge tiefer auf dem fast weißen
Sand wieder. Dort führte sie bis zur Mitte der
mondsichelähnlichen Bucht, aber die Spur verließ niemals
die Zone, die das Wasser wieder glattwusch.
In der Mitte der Bucht hörte die Spur auf.
In den winzigen Wellen des warmen Seewassers war undeutlich der
Kopf Deriones zu erkennen. Sie schwamm langsam mit kräftigen
Stößen auf das Ufer zu. Triefend naß kam sie aus dem
Wasser, blieb dort stehen, wo sich Land und Meer berührten und
schüttelte ihren Körper. Sie schien in den letzten Monden
noch schöner und reifer geworden zu sein.
Sie strich das Wasser aus ihrem Haar und lief mit großen
Sprüngen zurück zur Höhle. Sie wusch an der Quelle das
Salzwasser aus dem Haar und vom Körper, dann trocknete sie sich
in der warmen Luft ab und verteilte Öl auf die Haut. Als sie zur
Höhle zurückging und vor dem Eingang stehenblieb, um den
Sonnenaufgang über dem Meer anzusehen, erstarrte sie mitten in
der Bewegung. Das, was sie sah, traf sie wie ein tödlicher
Schrecken.
Aber es sollte kein Schrecken sein!
All ihre Träume hatten sich um dieses Ereignis gedreht. Sie
sah ein kleines Schiff, das nicht die entfernteste Ähnlichkeit
mit den Fischerbooten hatte. Das dreieckige Segel spannte sich in der
letzten Brise der Nacht. Ein weißes Segel, das eben von den
Sonnenstrahlen berührt wurde. Ein hochgezogener Bug mit einem
Wolfskopf aus etwas, das wie Silber aussah. Ihre scharfen Augen
erkannten einen großen, schlanken Mann im Bug des Schiffes.
Es war der Fürst, der das Paradies angesteuert hatte, um die
Bestien und Aison zu vertreiben.
Das Schiff steuerte genau auf ihre Bucht zu. Plötzlich wurde
sich Derione ihrer Nacktheit bewußt. Sie sah an sich herunter,
und als sie in der völligen Stille des Morgens die Stimmen vom
Schiff hörte, zerstoben alle Traumgedanken im Licht. Sie tauchte
zurück in die Höhle, zog sich an und bewaffnete sich.
Derione wußte, wie gefährlich es war, Träume und
Wirklichkeit miteinander zu vermengen oder gar zu verwechseln. Als
das Schiff auf Pfeilschußweite herangekommen war, befand sie
sich in der Deckung der Felsen und Ufereichen und zielte mit halb
gespanntem Bogen auf die Ankömmlinge.
Sie wären wachsam, aber unbefangen.
Sie bewegten sich sicher, aber furchtlos. Ihre Gesichter waren
ernst, aber offen und angenehm. Also doch der Fürst aus dem
Traum? Derione schüttelte leicht den Kopf und blieb unbeweglich
und versteckt. Das Schiff wurde an den Strand gezogen. Als der große
Mann zu sprechen begann, hörte sie zu ihrer Verblüffung,
daß er in ihrer Sprache redete.
Sie war völlig verwirrt. Ihre Selbstsicherheit verließ
sie. Derione wußte nicht, was sie tun sollte.
2.
Ein leichter Wind trieb den Sand und den Staub von den Pferdehufen
nach hinten. Die Sonne stach senkrecht und unbarmherzig auf die zwei
Reiter hinunter. In der hitzeflimmernden Ferne verschwanden die
Umrisse einer Stadt am Horizont. Die beiden Reiter hingen müde
und verstaubt in den Sätteln. Auch die Tiere waren erschöpft.
»Gebieter«, sagte eine
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