PR TB 201 Der Verräter Mutant
keinen Tropfen Wasser werden
auffangen können?“ fragte Vanessa entsetzt. Die
Vorstellung, daß diese gigantischen Wassermengen spurlos an ihr
vorübergehen sollten, erschreckte sie. Das Wasser war zum
Greifen nahe, aber absolut unerreichbar.
„Wir werden abwarten müssen“, sagte Hardan
Seccar. „Aber langsam geht mir der Humor dieses seltsamen
Wesens auf die Nerven.“
Vanessa erinnerte sich, daß ES zu Beginn dieses Abenteuers
laut gelacht hatte. Jeder hatte das Gelächter hören können.
Folglich war ES nicht tot, der Gedanke
erschien Vanessa im nachhinein absurd. Aber war es denkbar, daß
ES übergeschnappt war? Daß der Herr von Wanderer den
Verstand verloren hatte?
„Was haben wir diesem Wesen getan, daß es so grausam
mit uns verfährt?“ fragte Hardan Seccar. „Wenn ES
uns nicht mag, warum hat er uns dann überhaupt auf Wanderer
landen lassen?“
„Frage ihn oder es oder wie auch immer, wenn wir das Zentrum
von Wanderer erreicht haben“, sagte Varn Hister. „Adams,
Sie waren doch schon einmal hier. Können Sie sich nicht an
bestimmte Geländeformationen erinnern?“
Der Halbmutant mit dem fotografischen Gedächtnis schüttelte
den großen Kopf. „Nichts kommt mir bekannt vor“,
sagte Adams halblaut. „Aber bedenken Sie die Macht dieses
Wesens. ES ist durchaus in der Lage, Wanderer binnen weniger
Augenblicke so zu verändern, daß wir den Planeten nicht
mehr wiedererkennen würden. Im Grunde können wir nicht
einmal sicher sein, ob das, was wir sehen, tatsächlich
existiert. Unter Umständen sind wir noch an Bord der Space-Jet,
und alles, was wir bisher erlebt haben, ist lediglich ein Gaukelspiel
des Unsterblichen.“ Hister fletschte die Zähne.
„Unsinn“, sagte er. „Ich habe die Instrumente
beim Anflug genau beobachtet.“ „Vielleicht haben Ihnen
die Instrumente falsche Informationen geliefert“, sagte Adams.
„Für ein Wesen wie ES ist es leicht, aus einer Drei eine
Sieben zu machen und in Ihrem Hirn erscheinen zu lassen.“
„Und was sollen wir dagegen tun?“ fragte Seccar
betroffen. „Wie könnten wir ein solches Trugspiel
durchschauen?“
„Gar nicht“, antwortete Homer G. Adams. „Wir
alle haben nur eine Möglichkeit - wir müssen mitspielen und
darauf hoffen, daß uns der Ausgang des Spieles gefällt.“
Hister blieb äußerlich ruhig, während Seccar eine
Reihe von Flüchen hören ließ. Er verfügte über
ein bemerkenswertes Repertoire an Beschimpfungen.
Vanessa hatte Mühe, die Fassung zu bewahren.
Sie sah nach oben, wo sich der wolkenfreie Streifen inzwischen
beachtlich verbreitert hatte. Und voraus, in der Nähe des
Gebirges, war deutlich zu sehen, daß es dort regnete. Wenn dies
ein Scherz des Fiktivwesens sein sollte, fand Vanessa ihn nicht sehr
gut. Sie war sich nicht bewußt, irgendeine Schuld auf sich
geladen zu haben. Sie hatte niemanden getäuscht, betrogen,
verletzt oder gar getötet. Ihr Leben war bisher stets von
langweiliger Makellosigkeit gewesen. Es gab keinen Grund, sie zu
quälen.
Was also hatte sie getan, daß sie gezwungen wurde, sich mit
diesem Gesindel abzugeben, mit dem wölfischen Varn Hister, dem
Klotz Olof Knudsson, dem widerlichen Hardan Seccar und den anderen?
Warum mußte sie sich zu Tode marschieren, Durst leiden - und
womöglich gar in dieser Wildnis sterben?
Ja, es war sogar denkbar, daß sie, die sich nie etwas hatte
zuschulden kommen lassen, hier sterben mußte, während
lasterhafte Schurken überlebten, vielleicht gar mit der
Unsterblichkeit belohnt wurden.
In diesem Augenblick empfand Vanessa Carmichael ein lebhaftes
Bedauern über ihre Anständigkeit. Wenn sie jetzt sterben
mußte, dann ging ein Leben zu Ende, das man sich langweiliger,
fader und inhaltsloser kaum vorstellen konnte. In diesem Augenblick
wurde Vanessa klar, daß sie aus völlig unerfindlichen
Gründen auf vieles verzichtet hatte, woran andere ihren Spaß
hatten.
Vanessa Carmichael zog die Knie an den Leib, legte die Arme auf
die Knie und verbarg ihr Gesicht. Sie hatte Lust zu weinen, aber sie
wagte es nicht, aus Angst, die anderen könnten sie auslachen.
Wenn sie auf Wanderer starb - was für eine Ironie, auf der
Welt der Unsterblichkeit zu sterben! -, dann würde man ihr
Verschwinden wahrscheinlich gar nicht bemerken.
Mit grausamer Deutlichkeit wurde sich Vanessa bewußt, daß
ihr ganzes bisheriges Leben aus einer Sammlung von Banalitäten
bestand.
„Wollen Sie nichts essen?“
Vanessa hob den Kopf. Hardan Seccar stand vor ihr und grinste sie
an.
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