PR TB 227 Wolken Des Todes
den Tempel.
Neben dem Eingang, hinter der schmalen Türöffnung der
ersten Opferkammer, breiteten wir unser Nachtlager aus. Ocir stellte
sich in den Tempeleingang und blieb bis zum Morgengrauen dort stehen,
regungslos, wie ein Standbild. Immer wieder warfen ihm die Posten
bewundernde Blicke zu und flüsterten einander zu, daß
seine Augen leuchteten wie die Glut der Feuer.
Gegen Mitternacht fiel in weiten Teilen des Zweistromlands, im
Gebirge ebenso wie über dem südlichen Meer, ein milder,
feiner Regen. Er war warm und hielt bis in die ersten Stunden des
Tages an. Er schwemmte nicht Erdreich und Sand weg und machte aus den
leeren Flußbetten reißende Todesfallen, sondern tränkte
das Land, das die Feuchtigkeit aufsog wie ein Schwamm.
Als wir erwachten, war der Wald in sämtliche Schattierungen
von Grün getaucht. Überall dort, wo die Strahlen der
Morgensonne auftrafen, hatten sich über Nacht die Blüten
winziger Gewächse geöffnet.
8.
Viereinhalb Tage lang brauchte unser Zug, bis wir wieder im Palast
waren. Von Tag zu Tag riß der Himmel über dem Land mehr
auf. Noch zweimal hatte es lange geregnet, und die zunehmende Wärme
veränderte das Land völlig. Überall blühten die
Pflanzen in vielen Farben. Die Nomaden wurden als Gefangene hinter
dem letzten Wagen geführt; sechzig Männer hatten den
Angriff überlebt. Ihr Fürst war, ohne daß wir hatten
eingreifen können, zu Tode geschunden worden. Der Gesetzeskodex
des Ersten Tiglatpilesars befahl es so.
Die eigenartige Schönheit der wiedererwachenden Natur war
nicht in der Lage, uns die schauerliche Hinrichtung rasch vergessen
zu lassen. Aber die Soldaten Akkads hatten zwei längere
Schwerter aus einem seltenen, vergleichsweise kostbaren Metall
erbeutet - aus Eisen. Das Erz kam aus dem Osten jenseits des
Gebirges.
Jetzt ruhten wir uns in den hohen Räumen des Tempels aus und
planten unseren nächsten Einsatz.
„Wo ist Ptah-Sokar?" fragte mich Charis. Ich zog die
Schultern hoch, und an meiner Stelle antwortete der Anführer
Tabarna:
„Ich bin sicher, daß er mit Tursha zusammen im
Uferschilf jagt."
Die Zeit eilte für uns. Unser Gleiter lag bereits neben den
königlichen Booten. Unser nächstes Ziel lag in
menschenleerem Land, laut den Karten, die wir hatten. Also brauchten
wir keinerlei Maskerade und sicher auch keine Hilfe von ES. Selbst im
Innern des wuchtigen Tempels, in dem viele Säle dem Staatsgott
Assur geweiht waren, nahmen Helligkeit und Wärme zu. Tabarna,
der seit unserer Ankunft nicht von unserer Seite wich und besonders
Ocir bewunderte, erlebte jede Stunde ein neues, kleines Wunder:
unsere Waffen waren ebenso aufregend wie fast jedes Stück
unserer anderen Ausrüstung. Schließlich, am Abend, als die
Hierodulen an einem langen Tisch unser Essen auftrugen, wagte der
Anführer mich zu fragen.
„Euch führt der Weg in viele andere Länder. Habe
ich nicht bewiesen, daß ich schnell und mutig bin? Nehmt mich
mit, Atlan-Anhetes!"
Ich blickte Charis fragend an, wartete auf eine Zustimmung oder
Ablehnung des Mondrobots, erhoffte eine Stellungnahme von ES oder
zumindest einen Kommentar des Extrahirns. Nichts. Ich wich aus und
antwortete in tiefernstem Ton:
„Später wirst du erfahren, was wir beschlossen haben,
Tabarna."
„In einem anderen Land kann ich kämpfen. Hier aber ist
jeder Kampf sinnlos geworden."
„Warte es ab, Tabarna."
„Ich werde alles tun", meinte er versonnen, „was
ihr verlangt. Ihr werdet keinen besseren Diener und Kämpfer
finden."
„Wir glauben dir. Aber für uns sind andere Dinge
wichtig. Du weißt, daß wir morgen aus Akkad verschwunden
sein werden?"
„Wir alle wissen es. Auch Tursha, die Ptah fragen wird, ob
er sie mit sich nimmt."
Vielleicht ist es sinnvoll, riet der Logiksektor plötzlich,
wenn du deine Mannschaft vergrößerst. Immerhin sind
Tabarna und Tursha untypische Vertreter der babylonischen
Bevölkerung!
Ich nahm, um die Pause besser zu überbrücken, einen
tiefen Schluck des faden Bieres und kümmerte mich wieder um den
Kurs des Gleitboots. Die wichtigsten Männer der Stadt kamen mit
ihrem Gefolge, um das Abschiedsessen zu einer wichtigen Angelegenheit
zu machen. Ocir hatte eine große Schmiede mit einer Batterie
von Schmelzöfen entdeckt und den Handwerkern eine Reihe von
technischen Verbesserungen erklärt; so beispielsweise die
Beimengung von arsenhaltigem Antimon zur Veredlung- des Kupfers, das
dadurch heller und härter
wurde. Ocir gelang es, inmitten der redenden, lachenden,
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