PR2607-Der Fimbul-Impuls
menschlich – oder doch beinahe –, andere nicht.
Im nächsten Augenblick fand sie keine Spur mehr von der Vision.
Was war denn das?, dachte sie. Es hatte sich angefühlt wie eine paranormale Fata Morgana.
Sie setzte ihre telepathische Exkursion fort, öffnete sich diesem brennenden Wunderland, seiner hyperphysikalischen Gegenwart. Allmählich drang etwas in ihren Geist vor. Etwas, das anders, aber auch wieder gleich war. Schwer zu fassen, ein lichter Nebel, eine vieldimensionale Silhouette. Abermals das Bild der Stadt? Irgendwie ja, aber die Impression veränderte sich, wurde zu einem neuen Muster ...
Auch dieses andere war nicht menschlich, und es war mehr als der bloße Widerschein der hyperphysikalischen Präsenz von Sol.
Es war tatsächlich ein Gedanke. Aber er war so groß und – das war das Merkwürdigste: Er stand still. Sonst waren alle Gedanken in Fluss, trieben voran, entwickelten und wandelten sich.
Dieser Gedanke aber bewegte sich nicht. Er stand da, ungeheuer groß, ein mentales Monument. Als Sarmotte begriff, vor welchem Monument ihr Geist da stand, fühlte sie einen Hauch von Scham und sehr viel Neugier. Dieses Monument, dieser ungeheure statische Gedanke, war tot. Ihr Gegenüber war das Äquivalent der Leiche von ARCHETIM.
Sie staunte über das Ausmaß, in dem sich der psi-materielle Korpus der toten Superintelligenz mit der Präsenz der Sonne verschränkt hatte.
Das Bild der Sonne als bloße Ruhestätte für ARCHETIM war falsch. In gewisser Weise war Sol zu ARCHETIM geworden und ARCHETIM zu Sol.
Die tote Superintelligenz war zugleich anwesend und abwesend, ein Echo, ein Nachhall, dem kein Ruf vorangegangen war und das dennoch nie verklang.
Für einen Moment war Sarmotte versucht, sich diesem Nachhall weiter zuzuwenden, in die grenzenlosen Abgründe des Todes vorzudringen.
Aber etwas ließ sie zurückscheuen, eine Art unsichtbarer, unwirklicher Geste von Abwehr, die der Korpus zugleich war.
Sie verstand, dass der Korpus ein Territorium war, das zu betreten ein menschlicher Geist nicht taugte. So, wie die Existenz einer Superintelligenz wesensverschieden war vom Dasein eines Menschen, so unterschieden sich auch ihre Tode.
Sie dachte sich zurück zur AMATERASU und schöpfte Kraft aus der Anwesenheit menschlicher Gedanken.
Du hast einen Auftrag, mahnte sie sich.
*
Reginald Bull schaute in das Gesicht mit den geschlossenen Augen. Er hätte einiges darum gegeben, zu sehen, was Shanda Sarmotte sah.
Einmal, ganz zu Beginn, war auf das Gesicht mit den geschlossenen Augen der Glanz einer Verklärung getreten, unmittelbar darauf gefolgt von einer fahlen Blässe.
Bull hatte einen Schritt auf Sarmotte zugemacht und den Arm bereits ausgestreckt, um sie an der Schulter zu fassen. Aber da hatte sich alles wieder normalisiert. Ihre Atemzüge tief, ruhig und gleichmäßig.
Danach hatte Sarmotte eine Weile so gewirkt, als ob sie die Augen nur geschlossen hätte, um sich zu konzentrieren. Ein trotz der geschlossenen Lider waches Gesicht.
Das hatte sich unmerklich geändert. Nun schien das Gesicht still und verlassen.
Wie ein Haus, dessen Besitzer auf eine Wanderschaft gegangen ist. Bull erschrak geradezu. Wohin haben wir sie geschickt? Sie ist fort, und wir können ihr nicht folgen.
Und als hätte er seine Gedanken erahnt, sagte der Medoroboter in diesem Moment: »Sämtliche Vitalwerte stabil.«
Bull schluckte, dann nickte er.
Deb nahm andächtig einen Schluck Kaffee.
Es war 10.22 Uhr. Sarmotte war seit fast einer Stunde unterwegs.
*
Sie lauschte. Sie war ganz Ohr, und das Ohr, das sie war, bewegte sich richtungslos, stieg und sank und wusste von keinem Unterschied zwischen Steigen und Sinken.
Ihr Anker war das große Gedankenpuzzle an Bord der AMATERASU, dieser bunte mentale Teppich, deren Weber nicht wussten, dass sie ihn webten.
Während sie in die imaginären Räume vordrang, wurde der gedachte Teppich leiser und leiser, ein Hintergrundrauschen von wunderbar bittersüßer, banaler Menschlichkeit.
Eine winzige Gedankeninsel im stummen Meer der Sonne.
Sie hatte längst jedes Gefühl für Zeit verloren.
Sie hatte mit Bull abgesprochen, dass sie zunächst versuchen sollte, die mentalen Impulse der Besatzungen zu orten, die an Bord der Nagelschiffe sein sollten.
Tatsächlich gab es keinen Beweis dafür, dass die Sonnennägel, wie Deb sie genannt hatte, bemannt waren. Vielleicht hatte man es mit automatischen Einheiten zu tun, mit den leblosen Sonden einer fremdartigen
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