PR2616-Countdown für Sol
seine Prozession um das Bett, fünfmal linksherum, fünfmal rechtsherum und wieder von vorn. Als er endlich absetzte, war ihm keine Spur von Anstrengung anzumerken.
Korbinian beugte sich über Lia. Ihr Atem hatte sich beruhigt, sie war eingeschlafen.
»Morgen komme ich wieder«, sagte der Fremde mit diesmal fast weiblicher Stimme.
»Gut. Komm am Vormittag. Da bin ich daheim.«
Er sah dem seltsamen Vogel nach, der wie ein Mann, aber auch wie eine Frau aussah, ein androgynes Wesen vielleicht. Das hätte die unterschiedlichen Stimmvarianten erklärt.
Die Stille Ve war wieder da, ein heller Schein in der Dunkelheit. Ihre Blicke kreuzten sich kurz. Ve machte sich ebenfalls Sorgen um Lia und freute sich über den Heiler.
Korbinian zweifelte noch immer, ob er richtig gehandelt hatte. Mit diesen Zweifeln schlief er ein.
*
Stradprais kam täglich. Nach einer Woche hielt er es für erforderlich, dass Korbinian bei jeder Sitzung dabei war. Da sich Bokos soziale Kontakte auf seinen Beruf beschränkten, konnte er es meistens einrichten.
Mit der Zeit nervte es ihn, den teilweise ungewohnten Tönen zu lauschen und sich immer wieder anhören zu müssen, nicht so ungeduldig zu sein.
Stradprais vollführte seltsame Verrenkungen und Tänze um das Bett herum, mal aufrecht, dann gebückt oder im Kniegang. Er krümmte die Phenube nach links, dann nach rechts, dann spielte er über dem Bett in der Luft, als wollte er dort den Wasserdampf kondensieren und abregnen lassen.
Inzwischen blieb er drei Stunden, und Korbinian kam zum ersten Mal zu spät zur Arbeit, ohne es am Tag vorher angemeldet zu haben. Ein kritischer Blick vom Besitzer des Love in the Bottle, dabei blieb es zum Glück.
Korbinian verlegte die Sitzungen auf den frühen Morgen, um weiteren Überraschungen vorzubeugen. Stradprais akzeptierte den Termin kommentarlos. Vielleicht brauchte er keinen Schlaf oder schlief während des Aura-Tanzes – so irgendwie stellte Korbinian es sich vor.
Am zehnten Tag ereignete sich etwas, womit er selbst am allerwenigsten rechnete. Lia schlug unvermittelt die Augen auf, ohne dass jemand sie angesprochen hatte. Sie fixierte Korbinian.
»Du siehst mich an, das ist wundervoll«, sagte er. Hoffnung keimte in ihm auf, doch Stradprais dämpfte sie.
»Noch weiß ich zu wenig von der Kraft, die in ihr wohnt. Es kann wieder rückwärtsgehen, sich in Stufen entwickeln und verbessern, aber auch stagnieren.«
Am nächsten Tag versuchte sie, seine Bewegungen mit den Augen zu verfolgen. Es strengte sie ziemlich an. »Lass dir Zeit. Schön ruhig bleiben!«, flüsterte er ihr zu.
Zum ersten Mal schien sie auch den Heiler wahrzunehmen. Als Stradprais ging, hüpfte Korbinian vor Freude in seinem Zimmer hin und her. Grinsend sah er sich dabei zu. »Warum soll ich mich nicht aufführen wie ein kleines Kind? Wir waren sechs, als wir getrennt wurden. Und ich Idiot hätte den Mann ums Haar abgewiesen.«
Als er Lia wieder aufsuchte, schlief sie tief und fest. Die Behandlung hatte sie angestrengt. »Du solltest ein paar Prallfelder um ihren Hals projizieren, damit sich die Muskulatur ein wenig aufbaut und sie bald den Kopf drehen kann«, sagte er zu der Positronik.
Der Automat wiegelte ab. »Der Doktor hat es mir verboten. Du kannst seine Anordnung aber aufheben. Du bist dazu berechtigt.«
Korbinian brauchte nicht lange zu überlegen. »Wir lassen es so. Aber von welchem Doktor sprichst du?«
»Doktor Stradprais, das hat er mir gesagt.«
»Du hast seine Lizenz gesehen oder Zugang zu seinen Daten erhalten?«
»Nein! Sein Volk gehört keinem mir bekannten medizinischen Standard an. Seine Legitimation gilt nicht für die araische Doktrin oder die tahunschen Lehren. Er ist ein Sayporaner.«
Korbinian sagte nichts, aber er fand es seltsam, dass sich die Positronik die Argumente des Fremden zu eigen machte. Sayporaner existierten in der gesamten Milchstraße nicht, er hätte sie sonst in der Datenbank gefunden.
Vorerst beruhigte er sich damit, dass sie aus einer Polyport-Galaxis ins Solsystem gelangt waren.
Stradprais behielt recht. Lias Genesung stagnierte. Erst in der Mitte der dritten Woche trat eine Veränderung ein. Korbinian stockte der Atem, als Lia die Augen nicht mehr öffnete. Leblos lag sie da. Er trat dicht an das Bett und beugte sich über sie. Ihre Lippen bebten.
»Lia, hörst du mich?«
Die Lippen zuckten. Nach einer Weile öffneten sie sich und formten sich zu einem Wort. »Hörst!«
Nur ein Hauch war es, kaum laut genug,
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