Pralinen im Bett: Schuhdiebe, Mutterliebe, Seitenhiebe und weitere Tücken des Alltags (German Edition)
hatten eine schreckliche Vergangenheit hinter sich – wie zum Beispiel Lena, deren Mutter versucht hatte, sie auf dem Markt zu verkaufen, als wäre sie ein Tier. Oder Vika, die mit ansehen musste, wie ihr Vater den Liebhaber ihrer Mutter tötete. Oder Sergei, der fast blind ist, an TB leidet und seit dem Alter von fünf Jahren starker Raucher ist. Viele dieser Kinder hatten seit Jahren keinerlei Zuwendung erhalten – wenn sie überhaupt jemals welche bekommen hatten –, und Debbies Mutterinstinkt sagte ihr, dass hier Umarmungen dringender gebraucht wurden als alles andere.
Das war der Beginn von To Russia With Love . Sechs Jahre später sind der Jungentrakt, die Küche und die Wäscherei renoviert, man hat eine kleine medizinische Abteilung und ein Zentrum für berufliche Bildung angebaut – und das Leben der Kinder von Grund auf verändert.
Letzten Sommer lud Debbie mich ein, zusammen mit dreißig anderen Menschen – hauptsächlich Geldbeschaffer und Sponsoren – Hortolova einen Besuch abzustatten. Der Plan war, Anfang Januar, rechtzeitig zum russischen Weihnachtsfest, mit einer Ladung Geschenke loszufahren; eine Bescherung vom Weihnachtsmann, mit allem Drum und Dran.
Ich meldete mich schon so früh an, dass ich gar nicht daran glaubte, die Reise würde jemals wirklich stattfinden (Sie wissen doch bestimmt, wie das ist). Aber als der Termin näher rückte, packte mich die Angst. Mein Herzallerliebster wollte mich begleiten, und da wir selbst keine Kinder haben, fürchtete ich, wir würden in Versuchung kommen, welche zu adoptieren. Eine Woche vor der Abreise bekam ich eine Grippe, und ich gab mir alle Mühe, sie in etwas richtig Schlimmes wie Brustfellentzündung oder Derartiges umzugestalten, damit ich reiseunfähig war, aber es funktionierte nicht.
Als wir in Moskau landeten, fing es gerade an zu schneien. (Debbie hatte einen russischen Assistenten namens Igor dabei, der Gerüchten zufolge unglaublich engagiert war. So hatte Debbie erwähnt, dass der erste Eindruck, den die Gruppe von Russland bekam, wesentlich schöner sein würde, wenn es schneite, und anscheinend hatte sich Igor das zu Herzen genommen …)
Am Gepäckband gab es einen Moment der Panik, als kurz der Verdacht aufkam, Santas rotes Kostüm wäre uns abhanden gekommen, aber kurz bevor wir anfingen, all unsere roten Mützen zusammenzunähen, tauchte es wieder auf, und wir machten uns auf den Weg. Eine lange Fahrt ins südwestlich von Moskau gelegene Bryansk folgte, und um vier Uhr morgens checkten wir in unserem Hotel ein.
Am Vormittag um elf kam der Waisenhausbus, um uns abzuholen, und mit ihm ein Dolmetscher und eine zehnjährige Abgesandte: Polina, die erste Waise, die wir kennen lernten, eine vergnügte, redselige Kleine, die aussah wie eine jüngere, weniger mufflige Version von Kate Moss. Sie war begeistert und aufgeregt, uns begleiten zu dürfen, und als Santa in den Bus kletterte, geriet sie völlig aus dem Häuschen. Später erzählte sie mir ganz sachlich, dass ihre Mutter sie im Stich gelassen habe, als sie zwei Monate
alt gewesen war. Anscheinend hatte die Mutter jetzt eine neue Familie, »weit, weit weg«, und meldete sich nie bei Polina. Nach Hortolova war das Mädchen gekommen, als ihr Vater ins Gefängnis musste. Viele der »Waisen« sind keine richtigen Waisen im traditionellen Sinn, sondern »soziale Waisen«, das heißt, ein oder manchmal auch beide Elternteile leben zwar noch, haben aber aus den verschiedenen Gründen das Sorgerecht verloren – für gewöhnlich aufgrund von Vernachlässigung wegen Alkoholismus. Polinas Vater war inzwischen ermordet worden, und sie gab sich alle erdenkliche Mühe, mir klar zu machen, dass er »ein guter Mensch« war. Es brach mir fast das Herz.
Dann erreichten wir das Waisenhaus, das von außen betrachtet kein bisschen abweisend wirkte und keinerlei Ähnlichkeit hatte mit einer großen dunklen Institution à la Dickens, sondern aus einer Ansammlung von einstöckigen, cottageartigen Gebäuden bestand, die in einem verschneiten Tannenwald lagen. Sogar die Hunde – silberhaarige, blauäugige Wolfsdoppelgänger – steuerten das ihre dazu bei, dass man sich vorkam wie in einem Märchen mit einer Prise Realität.
Eine große Gruppe Kinder mit Nikolausmützen warteten schon auf uns, so aufgeregt, als wäre … na ja, als wäre Weihnachten.
Als wir aus dem Bus stiegen, stellte ich schockiert fest, dass es auch einen russischen Santa gab – in orangefarbenem Samt, das Gesicht
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