Pralinen im Bett: Schuhdiebe, Mutterliebe, Seitenhiebe und weitere Tücken des Alltags (German Edition)
Kindern alles geben, man würde sich das Herz für sie aus der Brust reißen. Ich hatte erwartet, sie wären schwierig, ungezogen, abweisend – wer könnte ihnen das auch übel nehmen, wenn man bedenkt, was sie in ihrem kurzen Leben schon alles mitgemacht haben? Aber sie waren bezaubernd, höflich, schelmisch, ernsthaft, süß, rücksichtsvoll, zärtlich und vor allem – und das rührte mich am meisten – besaßen sie eine natürliche Würde. Das alles ist in vollem Umfang Debbie und ihrem Team zu verdanken; obwohl in Hortolova hundertfünfzig Kinder leben, wird jedes Einzelne als Individuum behandelt, genau wie in einer Familie. Ich war tief bewegt von den unzähligen kleinen menschlichen Gesten, von der Rücksichtnahme, aber auch von den Unternehmungen – zum Beispiel fuhr eine große Jungengruppe zum Spiel Russland gegen Irland nach Moskau. Auch das Maß an Selbstbestimmung begeisterte mich. In den meisten anderen Heimen dürfen die Waisen nicht selbst entscheiden, was sie essen, was sie anziehen, wo sie schlafen – sie bekommen irgendetwas zugewiesen, ob es ihnen passt oder nicht. Aber in Hortolova gehen die Kinder mit auf den Markt und suchen sich selbst ihre Kleidungsstücke aus. Wohlgemerkt, am Anfang waren sie dazu natürlich noch nicht in der Lage, sie waren wie gelähmt, weil sie keinerlei Übung hatten, und deshalb dauerte der Einkauf dann auch eine halbe Ewigkeit.
Anders als in anderen Waisenhäusern dürfen die Hortolova-Kinder ihre Geschwister besuchen. Russische Waisenhäuser werden vom Erziehungsministerium betrieben – warum eigentlich? –, das die Kinder nach ihren intellektuellen Fähigkeiten sortiert. Die Klügeren kommen ins eine Waisenhaus, die Mittelschlauen in ein anderes etc., und es spielt keine Rolle, ob dabei Geschwister auseinander gerissen werden. Wenn eines intelligenter ist als das andere, dann werden sie in unterschiedliche Heime gesteckt, basta. Bestürzende
sechzig Prozent der Waisenkinder haben Geschwister in anderen Heimen, und um diesen unerträglichen Zustand wenigstens zu mildern, hat Debbie ein Geschwisterprogramm gestartet: Jeden Sonntag bringt der Bus die Kinder von Hortolova zu ihren Brüdern und Schwestern.
Jedes Kind in Hortolova hat außerdem eine irische Sponsorenfamilie, die pro Jahr 150 Euro für Dinge wie neue Kleider, Brillen und eventuelle Notfallanschaffungen spendet. Doch noch wichtiger ist, dass sie Briefe, Geburtstagskarten und Fotos austauschen, um den Kindern ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben – das Gefühl, jemandem wichtig zu sein.
Regelmäßig kommt ein Friseur, ein Zahnarzt und ein Psychologe ins Heim, und im beruflichen Bildungszentrum lernen die Kinder alles, vom Tanken (das sie an dem halben Lada üben, den jemand irgendwo gefunden hat) bis zum Kochen. An unserem letzten Tag kochten die Achtjährigen für uns und servierten uns mit herzzerreißender Ernsthaftigkeit unseren Tee.
Je mehr in Hortolova getan wird, desto mehr muss paradoxerweise noch getan werden; die Latte wird automatisch immer höher gelegt. Ein paar der Hortolova-Kinder sind sehr, sehr intelligent – drei Mädchen und ein Junge bekommen Sonderunterricht, damit sie vielleicht auf die Universität gehen können. Falls es klappt, wäre es das erste Mal, dass eins der Waisenkinder studiert. Einige der älteren Jungen bereiten sich auf den Abschied vom Waisenhaus vor (mit achtzehn sind sie dazu rechtmäßig verpflichtet), deshalb wurde das Challenger Programme eingerichtet, das ihr Selbstwertgefühl stärken, sie de-institutionalisieren (bis vor kurzem gab es in Russland dieses Konzept noch nicht, es war schlicht unmöglich, es den Menschen nahe zu bringen) und sie auf die Welt außerhalb des Heims vorbereiten soll.
Inzwischen wirft TRWL seine Netze auch in andere Richtungen
aus. Beispielsweise werden auch Kinder aus anderen Waisenhäusern an irische Sponsorenfamilien vermittelt. Debbie hat zudem beschlossen, sich das Waisenhaus von Bryansk vorzunehmen, das mit seinen 350 Kindern wirklich aus einem Roman von Dickens stammen könnte und in dem viele der Teenager bereits ein Alkoholproblem haben. Ein wahres Mammutprojekt. Viel ist getan, noch viel mehr ist zu tun, wie jemand mal gesagt hat …
Mein Besuch in Hortolova hat mein Leben verändert, und ich fühle mich privilegiert, dass ich diese Reise machen durfte. Ich weine nicht oft, nicht einmal dann, wenn ich sehr traurig bin – mein Herzallerliebster (ein Mann) weint für gewöhnlich weit häufiger als ich.
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