Pralinen im Bett: Schuhdiebe, Mutterliebe, Seitenhiebe und weitere Tücken des Alltags (German Edition)
mit Make-up bekleistert. Aber sein Bart war weit eindrucksvoller als bei unserem. Ich befürchtete schon ein Santa-Problem; die beiden Santas umkreisten einander und jeder beäugte argwöhnisch den Sack des anderen, aber dann schlossen sie Frieden, und wir gingen alle zur Bescherung ins Haus.
Debbie hatte mir gesagt, die Kinder seien alle sehr liebebedürftig und würden mich sicher ständig umarmen wollen. Die Vorstellung machte mir zu schaffen – diese Kinder waren so ausgehungert
nach Zuwendung, dass sie sich vermutlich jedem Wildfremden an den Hals warfen. Aber es kam ganz anders. So stieß ich beispielsweise in dem ganzen Geschenketrubel auf Polina, das muntere kleine Mädchen, das ich im Bus kennen gelernt hatte. Wir grinsten einander zu und umarmten uns kurz und spontan. Im Laufe der Tage zeigte sich, dass ich mich mit manchen Kindern besser verstand als mit anderen (genau so soll es ja auch sein), und wenn wir uns begegneten, fielen wir uns wie alte Freunde um den Hals. Mein Herzallerliebster hatte übrigens »seine eigenen« Kinder.
Was mich wirklich deprimierte, war die Schlüsselrolle, die der Alkoholismus in den Geschichten vieler Kinder spielte. So zum Beispiel bei der hübschen, blauäugigen, blonden Tatiana. Sie war erst vierzehn, wirkte aber mindestens wie achtzehn und strahlte eine ganz außergewöhnliche Ruhe aus. Vielleicht weil sie in jungen Jahren schon so viel er- und überlebt hatte. Sie lebte zusammen mit ihrer elfjährigen Schwester Luba im Waisenhaus, die nicht unproblematisch war und um die sich Tatiana anscheinend intensiv kümmerte. Die Mutter der beiden hatte sich zu Tode getrunken, aber ihr Vater lebte noch und wohnte in der Stadt, wo Tatiana ihn einmal im Monat besuchte. Wie sie mir erzählte, machte sie sich auch um ihn viele Gedanken. Er hatte das ganze Mobiliar verkauft, um Geld für Alkohol zu haben, hatte aber nie Lebensmittel im Haus. »Und er muss doch essen«, erklärte sie mir. »Ich mache mir Sorgen, wenn er gar nichts isst.« Stumm sah ich sie an, dachte: Mädchen, du bist vierzehn !, und hatte einen dicken Kloß von Traurigkeit im Hals, der mich zu ersticken drohte.
Seltsamerweise waren die Kinder, die mich am meisten rührten, eigentlich gar keine Kinder mehr – die Teenager-Jungs. Und das ist wirklich merkwürdig, denn ich habe vor Teenagern sonst immer ein bisschen Angst. Ich muss stets an mich selbst in diesem Alter denken – verwirrt, wütend, voller Hass auf die Erwachsenen – und
fürchte dann so sehr, etwas Dummes zu sagen, bei dem sie die Augen verdrehen und leise »Ach, du Scheiße« vor sich hin murmeln, dass ich sicherheitshalber einen weiten Bogen um sie mache. Aber die Jungs im Waisenhaus waren richtig nett zu mir – und außerdem waren sie klug. Dank eines großen Zufalls wurde im russischen Fernsehen ein Spiel von Watford gegen Chelsea gezeigt, und den Jungs war aufgefallen, dass mein Herzallerliebster eine Watford-Mütze trug (das ist nämlich »sein« Fußballverein). Seit die Mannschaft von Abramovich trainiert wird, scheint »Chelski« mehr oder weniger Russlands zweite Nationalmannschaft geworden zu sein. So rückte an besagtem Abend ein Bataillon Jungs an und wollte meinen Herzallerliebsten entführen, damit er das Spiel mit ihnen anschaute. Aber ich bestand darauf, dass er blieb, um seinen Pflichten als Fotograf nachzukommen (ich bin manchmal echt gemein). Sie tauschten viel sagende Blicke mit meinem Herzallerliebsten aus (»Frauen!«), und jedes Mal, wenn ein Tor gefallen war, wurde ein Bote ausgeschickt, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Es war alles so normal – und das war eigentlich das Traurigste.
Vielleicht ist es nicht richtig, einen Liebling zu haben, aber ich hatte trotzdem einen. Er hieß Andrei, war sechzehn Jahre alt und wie Tatiana auch ein »Kümmerer«-Kind. Er hat einen jüngeren Bruder namens Dima, der fünfzehn war und schon mehrere Zusammenbrüche gehabt hatte. Ihrer Mutter wurde das Sorgerecht entzogen, weil sie trank, und ihr Vater war nach einem Gefängnisaufenthalt erschlagen worden. Lange Zeit hatte Andrei Angst, Dima vom Tod des Vaters zu erzählen. Andrei war der geborene Friedensstifter und wollte gern Automechaniker werden. Sein Lieblingsauto war ein BMW, und Debbie musste mich beiseite nehmen und mir streng verbieten, ihm einen zu kaufen. Ich meine, als ob … Okay, der Gedanke ging mir tatsächlich durch den Kopf, aber ich hätte natürlich nicht wirklich …
Die Sache ist, man möchte diesen
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