Pretty - Erkenne dein Gesicht

dass die sie noch nicht aufgegeben oder zumindest irgendeine Nachricht für sie hinterlassen hatten.
    Bestimmt war Zane dageblieben, wartete im höchsten Turm und war nicht bereit aufzubrechen, solange noch irgendeine Hoffnung bestand, dass Tally auftauchen würde.
    Falls ihre Flucht für ihn nicht zu spät gekommen war.
    Tally schob den Rucksack über die Schultern und machte sich auf den Weg.
    ***
    In den Straßen der Ruinenstadt wimmelte es nur so von Gespenstern.
    Tally war hier kaum jemals zu Fuß unterwegs gewesen. Sie war immer mit dem Hubbrett geflogen - in mindestens zehn Meter Höhe - und damit den ausbrannten Wagen auf dem Boden ausgewichen. Während der letzten Tage der Rusty-Zivilisation hatte sich eine künstliche Seuche in der Welt verbreitet. Sie befiel weder Menschen noch Tiere, sondern nur Petroleum, vermehrte sich in den Benzintanks der Bodenwagen und Flugzeuge und machte das infizierte Öl langsam instabil. Von der Seuche verwandeltes Petroleum entzündete sich beim Kontakt mit Sauerstoff und der ölige Qualm der plötzlich entstandenen Feuer verteilte die Bakteriensporen mit dem Wind auf weitere Benzintanks und weitere Ölfelder, bis sie jedes Rusty Fahrzeug auf der ganzen Welt erreicht hatten.
    Die Rusties waren wirklich nicht gern zu Fuß gegangen, wie sich dann herausstellte. Selbst nachdem sie erkannt hatten wie die Seuche funktionierte, waren in Panik geratene Bürger noch immer in ihre komischen Bodenwagen mit den Gummireifen gesprungen und hatten versucht in die Wildnis zu entkommen. Wenn Tally genau hinsah, konnte sie durch die verschmierten Fenster der auf den Ruinenstraßen feststeckenden Wagen zerfallene Skelette sehen. Nur wenige Menschen waren damals gescheit genug gewesen, zu Fuß zu fliehen, und stark genug, um den Tod ihrer Welt zu überleben. Wer immer die Seuche entwickelt hatte, hatte jedenfalls die Schwäche der Rusties sehr gut durchschaut.
    "Meine Güte, was wart ihr bescheuert", murmelte Tally den Wagenfenstern zu, aber sie zu beschimpfen machte die toten Rusties nicht weniger unheimlich. Die wenigen intakten Schädel glotzten sie mit leerem Ausdruck an.
    Je tiefer sie in die tote Stadt vordrang, desto höher wurden die Gebäude, ihre stählernen Gerüste ragten auf wie Skelette von riesigen ausgestorbenen Wesen. Tally folgte einem verschlungenen Weg durch die engen Straßen und hielt zwischen den Ruinen Ausschau nach dem höchsten Gebäude. Der riesige Turm war von einem Hubbrett aus leicht zu erkennen, aber vom Boden aus wirkte die Stadt wie ein verworrener Irrgarten.
    Dann bog sie um eine Ecke und sah es, Brocken alten Betons, die sich an die hoch aufragende Struktur von Stahlträgern klammerten, die leeren Fenster glotzten auf sie herab und ließen gezackte Felder hellen Himmels sehen. Hier war sie einwandfrei richtig – Tally erinnerte sich daran, wie Shay sie bei ihrem ersten Besuch in der Ruinenstadt auf die Turmspitze geführt hatte. Es gab nur ein Problem.
    Wie sollte sie nach oben gelangen?
    Das Innere des Gebäudes war schon längst verrottet. Es gab keine Treppen und kaum Böden, die diesen Namen verdienten. Das Stahlgerüst war perfekt für die Magnetvorrichtungen eines Hubbrettes, aber kein Mensch konnte ohne erstklassige Bergsteigerausrüstung nach oben gelangen. Wenn Zane oder die New Smokies für Tally eine Nachricht hinterlassen hatten, dann dort oben, aber für Tally gab es keine Möglichkeit, diese Nachricht zu erreichen.
    Sie ließ sich zu Boden sinken, plötzlich erschöpft. Es war wie der Turm in ihrem Traum, ohne Treppe oder Fahrstuhl, und sie hatte den Schlüssel verloren, in diesem Fall eben ihr Hubbrett. Die einzige Möglichkeit, die ihr einfiel, war, zu dem gestohlenen Hubwagen zurückzulaufen und damit hochzufliegen. Vielleicht könnte sie ihn dicht genug an den Turm heranbringen ... aber wer würde ihn im ruhigen Schwebezustand halten, während sie auf das uralte Stahlgerüst kletterte?
    Zum tausendsten Mal wünschte Tally sich ihr Hubbrett zurück.
    Sie starrte am Turm hoch. Was, wenn da oben niemand war? Was, wenn Tally Youngblood jetzt, nachdem sie diesen weiten Weg zurückgelegt hatte, noch immer allein war?
    Sie sprang auf und schrie, so laut sie konnte: "Heeeeee!"
    Ihr Schrei hallte zwischen den Ruinen wider und jagte eine Vogelschar von einem anderen Dach hoch.
    "He! Ich bin’s!"
    Als das Echo verhallt war, kam keine Antwort. Tally tat der Hals vom Schreien weh. Sie kniete nieder, um einen Sicherheitsstrahler aus ihrem Rucksack zu