Pretty Little Liars - Teuflisch: Band 5
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SOGAR BIBLIOTHEKEN SIND NICHT MEHR SICHER
Spencer starrte benommen den Dampf an, der aus ihrer stählernen Thermoskanne mit Kaffee aufstieg. Andrew Campbell saß ihr gegenüber und blätterte eine Seite in ihrem dicken Wirtschafts-Lehrbuch um. Er tippte auf einen mit Textmarker hervorgehobenen Absatz.
»Okay, hier geht es darum, wie die US-Notenbank das Geldvolumen kontrolliert«, erklärte Andrew. »Wenn sich zum Beispiel die Notenbank Sorgen macht, die Wirtschaft könnte auf eine Rezession zusteuern, senkt sie die Mindestreservepflicht und die Zinsen für Kredite. Weißt du noch, dass wir das im Unterricht besprochen haben?«
»Hm«, murmelte Spencer ausweichend. Sie wusste über die US-Notenbank nur, dass ihre Eltern jedes Mal ganz aus dem Häuschen waren, wenn die Zinsen gesenkt wurden. Das bedeutete nämlich, dass der Wert ihrer Aktien stieg und ihre Mutter wieder einmal das Wohnzimmer neu einrichten konnte. Aber Spencer erinnerte sich nicht daran, dass sie dieses Thema im Unterricht behandelt hatten. Sie hatte im Ökonomieunterricht stets das gleiche, frustrierende, hilflose Gefühl wie in ihrem immer wiederkehrenden Albtraum: Da war sie in einem Keller gefangen, der sich langsam mit Wasser füllte. Jedes Mal, wenn sie versuchte, den Notruf zu wählen, änderte
sich die Tastenbelegung ihres Telefons. Und dann verwandelten sich die Tasten in Gummibärchen, und das Wasser drang ihr in Mund und Nase ein.
Es war Mittwochabend, kurz nach zwanzig Uhr. Spencer und Andrew saßen in einem der mit Büchern vollgestellten Studierzimmer der Stadtbibliothek von Rosewood und gingen die letzte Unterrichtseinheit in Wirtschaftskunde durch. Weil Spencer einen Wirtschaftsaufsatz geklaut hatte, musste sie auf Geheiß der Schulleitung in diesem Semester eine Eins schaffen, sonst durfte sie nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Ihre Eltern dachten gar nicht daran, ihr einen Privatlehrer zu besorgen – und sie hatten Spencers Kreditkarten immer noch nicht entsperrt –, also hatte Spencer klein beigegeben und Andrew angerufen, der Klassenbester war. Seltsamerweise war Andrew sogar gern bereit gewesen, sich mit ihr zu treffen, und das, obwohl sie heute eine Unmenge Hausaufgaben in Englisch, Mathe und Chemie hatten.
»Und hier geht es um eine Gleichung zu Tauschvorgängen von Geld und Gütern«, sagte Andrew und tippte wieder auf einen Absatz. »Erinnerst du dich daran? Komm, wir lösen ein paar Aufgaben am Kapitelende.«
Als Andrew nach seinem Taschenrechner griff, fiel ihm eine dicke, blonde Haarsträhne über die Augen. Spencer glaubte, den Kastanienduft von Kiehls Facial Fuel zu riechen, ihrem Lieblings-Seifenduft für Männer. Hatte Andrew das schon immer benutzt, oder war es neu? Sie war sich ziemlich sicher, dass er es beim Foxy-Ball nicht getragen hatte. Seitdem war sie ihm nicht mehr so nahe gekommen.
»Erde an Spencer?« Andrew bewegte seine Hand vor ihrem Gesicht. »Hallo?«
Spencer blinzelte. »Sorry«, stammelte sie.
Andrew faltete die Hände über dem Lehrbuch. »Hast du ein Wort von dem gehört, was ich dir erzählt habe?«
»Klar«, versicherte Spencer, aber als sie versuchte, sich daran zu erinnern, rief ihr Gedächtnis nur andere Erinnerungen auf. Wie die Nachricht von A., die sie nach Ians Entlassung auf Kaution erhalten hatten. Oder die vielen Berichte in den Nachrichten über Ians bevorstehenden Prozess am Freitag. Oder die Tatsache, dass ihre Mutter ohne sie eine Benefizgala plante. Oder das Sahnehäubchen: Dass Spencer vielleicht gar nicht dem Schoß der Familie Hastings entsprungen war.
Melissa hatte nicht viele Indizien für ihre Theorie, mit der sie am Dienstagabend herausgeplatzt war. Ihr einziger Hinweis darauf, dass Spencer adoptiert sein könnte, war, dass ihr Cousin Smith sie in ihrer Kindheit immer damit aufgezogen hatte. Außerdem konnte sich Melissa nicht daran erinnern, dass ihre Mutter tatsächlich neun Monate lang mit Spencer schwanger gewesen war.
Das war nicht viel, aber je mehr Spencer darüber nachdachte, desto mehr kam es ihr vor, als habe sie ein fehlendes Puzzlestück entdeckt. Melissa und sie hatten zwar beide dunkelblonde Haare, sahen sich sonst aber überhaupt nicht ähnlich. Und Spencer hatte sich früher oft gefragt, warum ihre Mutter so komisch reagiert hatte, als sie Spencer, Ali und die anderen dabei erwischte, wie diese in der sechsten Klasse Wir-sind-alle-Schwestern spielten. Sie hatten sich ausgemalt, ihre leibliche Mutter sei weltgewandt, reich und angesehen, habe
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