Price, Richard
klang durch. Er warf Rocco einen kurzen Blick zu und wandte
sich dann wieder dem Studium des Teppichbodens zu. »Ich hab den Kerl nicht
gekannt. Das hab ich gesagt. Ich hab Ihnen gesagt, was passiert ist.«
Rocco
lächelte, schüttelte den Kopf. Die Lüge stand dem Jungen wie in Leuchtschrift
ins Gesicht geschrieben. »Victor ...«
»Ich hab
Ihnen die Waffe gegeben. Jetzt will ich nicht mehr mit Ihnen reden. Also, tun
Sie einfach, was Sie tun müssen ... Ich will nicht mehr mit Ihnen reden.«
Rocco hob
die Hände. »Moment mal, Moment mal, werd nicht, lass uns nicht ... reg dich
nicht so auf. Ich nenn dich ja nicht einen Lügner oder so was. Ich denke nur,
dass da was verborgen liegt, und aus irgendeinem Grund erzählst du es mir
nicht.«
Der
Bursche atmete durch den Mund und riss dann die Augen auf. »Ach!«, keuchte er.
Rocco
sprach jetzt sanft. »He, schau mal, ich bin auf deiner Seite, ich versuch dich
nicht übers Ohr zu hauen. Glaub mir, ich tue hier, was ich eigentlich nicht
machen dürfte. Ich helfe dir dabei, deine Verteidigung in den Griff zu
kriegen.« Rocco legte eine Hand auf Victors knochige Schulter, redete zu ihm,
als sei er das Opfer. »Wenn dieser Typ dir irgendwas getan hat, deiner Familie,
wenn er dich bedroht hat, wenn er dir auf irgendeine Weise das Leben vermiest
hat, dann hilft dir das.« Rocco legte beide Hände auf
die Schultern des Jungen.
»Du
hättest außer dir vor Wut sein können, du hättest nicht mehr schlafen und essen
können. All das hilft dir. Vor Gericht. Komm schon, Victor, das kann ich nicht
allein machen. Hilf mir, damit ich dir helfen kann. Was hat dieses Arschloch
dir angetan?«
Für einen
langen, quälenden Augenblick sah Victor aus wie ein Fisch, der auf dem
Trockenen nach Luft schnappt. Rocco dachte, er hätte ihn endlich so weit, doch
dann schien der Junge sich langsam zu beruhigen und zu fassen. Er wich weiter
Roccos Blick aus, doch Rocco konnte spüren, dass etwas Neues in ihm arbeitete.
Rocco dachte, dass nun alles drin war, und wartete. Der Mund des Burschen und
seine Augen rangen mit seinen Gedanken, bis es schließlich aus ihm herausbrach.
»Es war
Notwehr.«
»Nein ...«
Rocco setzte sich enttäuscht auf. »Nein, nein, nein, das glaubst du doch selbst
nicht. Der Kerl hatte keine Waffe, aber du. Du hattest nicht mal den Eindruck,
er hätte eine Waffe bei sich. Das hast du mir gesagt. Du hast keinen Versuch
unternommen wegzulaufen, das hast du mir auch gesagt. Also wirklich, um die
Wahrheit zu sagen«, Rocco versuchte, diese kleine Bombe ganz vorsichtig
platzen zu lassen, »wir haben eine Zeugin, die sagt, du hättest auf den Typen gewartet, die sagt, sie habe gesehen, dass der Typ vor dir zurückgewichen ist.
Ich meine, wenn du weggelaufen wärst, wenn er dich in die Ecke gedrängt hätte,
und du hast mir ebenfalls gesagt, dass er das nicht getan hat - ich mein,
Victor, es gibt juristische Definitionen von solchen Dingen wie Notwehr. Es
gibt dafür Voraussetzungen, und wir haben bei dem Opfer keine Waffe
gefunden, es hat keine räumliche Einengung des Schützen
gegeben, keine gerichtsmedizinischen Hinweise
auf einen Kampf, keine Schrammen, keine Hautpartikel
oder Haare unter den Fingernägeln, keine Pulverspuren,
also ... nein, tut mir leid, tut mir echt leid ...«
Rocco
wartete nun auf ein Zeichen von Victor, hoffte, dass er den Jungen mit seiner
Logik sanft überwältigt hatte, doch Victor war verschwunden, irgendwohin,
dicht. Rocco betrachtete ihn ruhig, erstaunt darüber, wie still er werden
konnte, so völlig fern, dass er kein Gewicht mehr zu haben schien.
Dann
schien sich Victor aus sich selbst heraus zu erheben, als verlasse er Körper
und Geist, machte Bocksprünge über Roccos kleine logische Hindernisse hinweg
und segelte an harten Begründungen und nackter Wahrheit vorbei an einen
sichereren Ort.
»Ja«,
nickte Victor, so als beende er einen Streit, an dem Rocco nicht beteiligt war.
»Es war Notwehr.«
»Victor,
schau«, sagte Rocco fast flehend. »Versetz dich mal in meine Lage ...«
Doch Rocco
sah den völlig abwesenden Blick in Victors Augen und hielt inne: Dieser Junge
war weg.
Rocco
hämmerte eine weitere Dreiviertelstunde auf Victor ein, doch der Junge hielt
seelenruhig an seiner Behauptung, es sei Notwehr gewesen, fest. Rocco grübelte
darüber nach, wie jemand zugleich so flüchtig und so unbeweglich sein konnte,
und war es schließlich müde, sich selbst reden zu hören. Seufzend blätterte er
durch seine Notizen.
»Na
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