Priester des Blutes
Reich jenseits der Schlange, dessen Tor du bei allem, was du tust, schützen musst.
»Den Schleier zu lüften, bedeutet, ihn zu zerreißen, und jedes Mal, wenn sich jemand Zutritt zu ihm verschafft, kommen Monster in die Welt. Allein dafür, dass du hergebracht wurdest, wird an anderer Stelle ein Opfer gebracht. An irgendeinem weit entfernten Ort taucht eine Bestie auf, oder auch eine Seuche, denn man kann den Schleier nicht zerreißen, ohne dass irgendetwas entkommt, das eigentlich eingesperrt sein sollte oder dem seine Macht besser entzogen worden wäre. Als unsere Art erschaffen wurde, wurde der Schleier zerrissen, und unser Volk entstand. Selbst jetzt hat dein Eintritt vielen Lebewesen auf der Welt das Wirken des To des eingebracht, wenn ich dir auch nicht sagen könnte, in welcher Art und Weise er auftrat. Aber ich habe dies für dich getan, damit du das sehen kannst, was du dir wünschst, und von deinem Schicksal erfährst.«
Ich erblickte blasse Schatten von Gestalten. Sie wirkten wie weiße Tauben, die durch die weiße Luft schwammen. Mir fielen das weiße Gewässer der Alkemarerinnen und seine winzigen, kaum sichtbaren Insekten wieder ein, und ich fragte mich, ob diese nun überall in der Luft um mich herumwimmelten. Die Alkemarerinnen selbst mussten hier geboren worden sein, denn wie sollten solche Kreaturen sonst entstehen? Ich entstammte ebenfalls dieser ungesehenen Welt - mein Blut, mein Vampyrblut, entstammte ihr. Über mir, am endlosen Himmel, vernahm ich einen kreischenden Laut, als stieße irgendeine große fliegende Bestie herab, wie ein Habicht, der vom Himmel geflogen kam, um Beute zu fangen. Doch ich sah nichts.
Dann hörte ich Merods Stimme an meinem Ohr, wie das Sirren einer Mücke: »Bekämpfe nicht das Glas selbst, sonst wird er zerbrechen.«
»Das Glas?«
»Er stammt aus der Welt, die sich hier einst befand und dann verging. Nun hat er Sprünge und ist trübe, aber er zeigt vieles«, erklärte der Priester. »Er ist nicht im Mindesten klar. Daher kannst du dem, was du siehst, vertrauen - oder auch nicht.«
Plötzlich bemerkte ich einen Blitz aus Dunkelheit. Eine schwarze Wolke zog an dem weißen Rauch vorbei.
Ich erblickte eine Frau mit lose herabhängendem Haar.
Alienora. Meine sterbliche Geliebte.
Ich beobachtete Alienora, während Merod mit mir sprach. Sie schien ebenfalls zu sprechen, obwohl ich ihre Stimme nicht hören konnte. Sie trug ein einfaches Hemd, ein wunderschönes Kleid war neben ihr ins Stroh gefallen. Ich sah zu, wie zwei dunkle Gestalten neben sie traten. Dann erkannte ich die Ordenstracht und den Nonnenschleier der beiden Frauen. Es waren die Klausnerinnen der Grotte, die Magdalenenschwestern. Eine von ihnen brachte Alienora eine lange, dunkle Robe, und die andere gab ihr ein kleines Holz kreuz, das an einem Rosenkranz hing. Ich bemerkte auch, dass Alienora in eine Schüssel mit Wasser blickte, als sie das Obergewand sowie das Kreuz anlegte. Ihre Haare fielen nach vorn, als hätte sie sich weiter vorgebeugt, um in die Schüssel zu sehen.
Alienora zog die Robe der Schwesternschaft an. Also war sie dem Nonnenorden beigetreten! Durch das Glas sah ich, was aus ihr geworden war. Doch es war mehr als ein Jahr her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte. Es war ihre Absicht gewesen, den Magdalenen beizutreten, kurz nachdem ich fortgegangen war. Daraus schloss ich, dass es sich hierbei um eine ältere Vision handeln musste. Dies war die Vergangenheit.
Ich griff nach ihr, da ich das Bedürfnis verspürte, sie zu berühren, stattdessen aber fühlte ich, wie sich die Luft verdichtete, und ihr Bild kräuselte sich. »Sei vorsichtig, damit du das Glas nicht zerbrichst«, warnte Merods Stimme.
»Ich möchte sie berühren«, erwiderte ich. »Ich möchte sie hören.«
»Dies kann noch geschehen. Allerdings musst du vor sichtig sein, denn es könnte euch beiden Schaden zufügen, wenn auch nur eine einzige Welle die Oberfläche des Spiegels kräuselt.«
»Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Sind es seit dieser Vision nur Stunden gewesen oder bereits viele Jahre?«
»Ich bin kein Wächter der Zeit, Falkner. Doch du kannst ihren Duft riechen. Atme sie ein.«
Ich atmete so tief ein, wie ich es nur ver mochte. Auf die Wirkung war ich jedoch nicht gefasst. Es rührte mich beinahe zu Tränen, sie zu riechen, den Duft ihrer parfümierten Haut, ihres Haares und des aromatischen Gewürzes, von dem sie sich einen Tropfen hinter die Ohren zu träufeln pflegte, ebenso wie den schwereren
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