PRIM: Netzpiraten (German Edition)
aus. Das klang ja wie beim Überbringen eines Mahnbescheids, dachte sie.
Mehrere Gedankengänge rasten parallel durch ihren Kopf. Sie befürchtete, dass sie die Kontrolle über den weiteren Ablauf ihres Treffens verlieren könnte. Und sie war innerlich entzweit, ob sie das geschehen lassen sollte oder nicht. Der Abend verlief einfach nicht so, als dass sie Talburn beharrlich als einen Hochverdächtigen betrachten konnte, nach allen Erkenntnissen der NSA sogar als einen mit Sicherheit Schuldigen, den es zu überführen galt. Der Verein hätte einen Mann schicken sollen. Sie traf Talburn im Gang zwischen den Umkleidekabinen, und sie gingen zum Fahrstuhl.
„Ist sie besorgt um das kleine Mädchen, die gute Tante?“, fragte Talburn lachend. Er musste den Anruf in den hellhörigen Kabinen mitbekommen haben. Aber sicherlich hatte er nicht verstehen können, was Ohanian gesagt hatte.
Erst als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte, antwortete sie endlich: „Ja, wie Tanten eben so sind. Ich habe sie ewig lange nicht mehr gesehen, da war sie froh, dass ich ein paar Tage bei ihr wohnen würde.“ Dann lenkte sie schnell wieder von diesem Thema ab, über das sie lieber nicht mit ihm sprechen wollte. „Du verbringst also deine Freizeit hier oben mit Gisele Bündchen?“
„Nein, hier sind wir nur bei besonderen Anlässen. Meistens joggen wir durch den Park. Ich zeige dir nachher, wo genau.“
„Bist du schon einmal im Fahrstuhl stecken geblieben, Bob?“
„Noch nie. Fahrstühle bleiben nicht einfach stehen. Und wenn doch, kann man Hilfe heranholen. Keine Angst!“
„Wieso? Was würdest du denn machen?“
„Ich würde dir erst einmal deine Angst nehmen.“
„Wie denn?“
Statt einer Antwort umarmte und küsste er sie. Sie hatte es provoziert, und jeder Widerstand wäre lächerlich erschienen. Er hatte seine Hände unter ihre Rucksacktasche gesteckt und drückte sie sanft aber bestimmt an sich.
Auf der Straße schlug er den Weg zurück in Richtung Park ein. Sie liefen schweigend nebeneinander her und vermieden es sich anzusehen. Alice bemühte sich, ihrer Gefühle Herr zu bleiben und nicht zu zeigen, was in ihr vorging. Spürte sie Tränen kommen? Spielte sie ein verlogenes Spiel? Oder war sie einfach nur sie selbst, die echte Alice? Sie schob ihre Hand in seine.
„Du hast gesagt, du seiest mit allem einverstanden,“ sagte er, immer noch ohne sie anzusehen.
Sie verstärkte ihren Griff.
Der Park war um diese Zeit gut besucht. Überall sahen sie Leute, die offenbar von der Arbeit nach Hause eilten, Spaziergänger, Mütter mit Kindern, Jogger und Pferdekutschen. Talburn führte sie über schmale Wege fern von den Durchgangsstraßen, auf denen Autoverkehr noch bis 7 Uhr erlaubt war. Dann kreuzten sie eine riesige Wiese, die von Bäumen und Büschen umsäumt war, hinter denen sich die Hochhauskulisse Manhattens gegen den abendlichen Himmel abhob. Es gab immer noch Besucher, die auf ausgebreiteten Decken und Tüchern im Gras lagen und ruhten oder lasen, obwohl die Sonne den Wiesengrund nicht mehr erreichte. Vielleicht war es bei der anhaltenden Wärme sogar angenehmer als tagsüber in der Sonne. Einige Gruppen hatten sich offenbar auch zum Picknick verabredet, jedenfalls konnten man hier und da Körbe, Flaschen und Geschirr sehen.
„Du kennst dich hier wohl gut aus, Bob?“, fragte Alice.
„Ich jogge jeden Morgen im Park, wenn ich nicht auf Reisen bin. Dies hier ist die Schafweide. Sollte ursprünglich einmal ein Paradeplatz für das Militär werden. Das widersprach aber der Idee eines Parks für New York, in dem man seine Ruhe finden konnte. Deshalb wurde das Gelände erst einmal einem Schäfer und seinen Schafen überlassen, bis in das Jahr 1934, glaube ich. Das kleine Restaurant da drüben, die Tavern on the Green, war früher einmal Schafstall und Unterkunft des Schäfers.“ Talburn zeigte hinüber auf ein Gebäude im viktorianischen Stil, vor dem viele Gäste im Freien unter grünen Sonnenschirmen saßen. „Bei Wind kann man auf der Schafweide prima Drachen fliegen lassen.“
„Und das machst du auch manchmal?“
„Nein, ich gebe den Kindern höchstens mal ein paar Tipps.“
„Und fliegen die Kids hier auch mit Modellflugzeugen?“
„Würden sie vielleicht gern. Aber es ist verboten, und die Parkpolizei lässt nicht mit sich spaßen.“
Ein wenig später kamen sie an den Bronzestatuen von Victor Herbert, Ludwig van Beethoven und Friedrich von Schiller vorbei. Talburn spielte weiter den
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