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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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einheitlicher Dicke. Das hier oben auf dem Monument, das immer schneller durch den Flaschenzug lief, war feine Seidenschnur. Dagegen war das, was aus dem Bottich kam, merklich gröber. Und was ganz unten aufgerollt lag, war so dick wie das Handgelenk eines Mannes.
    »Schön«, sagte Jack und lenkte die Aufmerksamkeit des Inders auf sich. »Wie es scheint, werde ich sehr bald den Wagen des Phaeton benötigen. Und einen weiteren für Seine Ehrwürden.«
    Seine Ehrwürden gab zu erkennen, dass er amüsiert war. Der Inder stieß einen Seufzer aus und trottete durch die Tür, um sich auf den langen Abstieg die Treppe hinunter zu machen.
    »Worüber kichert Ihr?«, fragte Jack, während er halb um die Säule herumging, um dann Pater Édouard de Gex gegenüberzustehen. Der Jesuit hatte die vier jüdischen Touristen auf der südwestlichen Seite der Aussichtsplattform gewissermaßen in die Ecke getrieben. Zu seinen Füßen stand eine schwarze Schatulle. Der Deckel war offen. Verschiedene krumme Schlüssel und von Hand gehämmerte Vorhängeschlösser lagen überall auf dem Boden der Plattform herum. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er die Schatulle weitgehend geleert, aber manches von ihrem Inhalt war noch zu sehen: Sie war voller kleiner Lederbeutel gewesen, von denen jeder etwas von hohem spezifischem Gewicht enthielt, das klimperte, als de Gex sie nacheinander in einen festen Tornister aus Ochsenhaut umpackte. Ein zweiter bereits voller Tornister stand neben dem, den er gerade füllte.
    »Ihr belegt Euch, ohne es zu wissen, selbst mit einem Fluch«, antwortete de Gex. »Ihr solltet ihn den Wagen des Apoll nennen.«
    »Apoll ist Leroys Beiname – ich habe versucht, Ehrerbietung zu zeigen.«
    »Gut, dann eben Helios. Niemals Phaeton.«
    »Die Hälfte der jungen Burschen rattern in Phaetons durch die Stadt«, gab Jack zurück, »warum kann ich nicht in einem über London fliegen?«
    »Phaeton war eine Art Bastard von Helios. Er borgte sich Papas glänzendes Gefährt für eine himmlische Spritztour aus. Als er jedoch die schwindelnde Höhe sah, in die er aufgestiegen war, und von den Heroen, Sagengestalten und Titanen, die die Götter als Sternbilder in den Himmel gehängt hatten, in Angst und Schrecken versetzt wurde, verlor er den Verstand; der Wagen geriet außer Kontrolle und versengte die Erde; Zeus streckte ihn mit einem Blitz nieder, worauf er in einen Fluss stürzte. Wenn Ihr also Euer Beförderungsmittel als Wagen des Phaeton bezeichnet -«
    »Der Sinn Eurer Rede bleibt mir nicht verborgen«, erklärte Jack, der zusah, wie de Gex den letzten der klimpernden Beutel in dem Tornister verschwinden ließ. Dann sinnierte er in verändertem Ton: »Es ist schon merkwürdig. Ich habe immer gedacht, die alten heidnischen Riten müssten unendlich viel amüsanter gewesen sein als die unerträglichen Zeremonien der Christen, wurden sie doch in luftigen Tempeln von nackten Jungfrauen und umhertanzenden Lustknaben vollzogen und durch Festgelage und Orgien belebt; die dramatische Geschichte dieses Phaeton jedoch, vorgetragen von Eurer Ehrwürden, ist genauso trocken, langweilig und belehrend wie die Litaneien der Baptisten.«
    »Ich spreche über Euren Stolz, Eure Unwissenheit und Eure Verdammung, Jack. Das lässt sich leider nicht unterhaltsamer gestalten.«
    »Wer lenkte den Mondwagen, wenn die Nacht anbrach?«
    »Selene. Aber der war aus Silber.«
    »Wenn diese Tagediebe auf der Barke das Rad nicht etwas schneller drehen, wird man uns mit ihr vergleichen.«
    »Das Zwielicht wird sich noch eine Weile halten«, prophezeite de Gex.
    Jack ging das Seil inspizieren, das von unten heraufkam, über den Flaschenzug lief und dann, auf dem Weg zu besagter Barke, hinaus in den Himmel über London führte. Überrascht stellte er fest, dass es bereits zur Dicke seines Fingers angewachsen war. Überrascht und ein wenig bestürzt, denn er hatte gehofft, dass es irgendwo an einem Wetterhahn hängen bleiben und zerreißen würde, solange es noch dünn und schwach war. Doch nun, da es eine solche Dicke erreicht hatte, war die Wahrscheinlichkeit gering, dass es zerriss. Er würde die Sache also wirklich durchziehen müssen.
    Einige Minuten vergingen. London frönte wie immer seiner brodelnden, fieberhaften Geschäftigkeit: der Pöbel rund um den Fuß des Monuments, der auf mindestens tausend Mann angewachsen war und im Sprechchor nach den ihm verheißenen Guineen rief, hier auseinanderwich, um einem toll gewordenen Hund Platz zu machen, und sich dort

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