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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Ich gehe jetzt meine Neugier befriedigen über die Urgründe der Dinge, die mir Leibniz nie hat erklären können, über den Raum, das Unendliche, das Sein und das Nichts …
     
Sophie Charlotte, Königin von Preußen, auf ihrem Sterbebett im Alter von sechsunddreißig
     
     
     
     
     
    »Es war einmal ein mittelloses Waisenkind mit Namen Wilhelmina Caroline oder, kurz, Caroline. Ihr Vater war ein ausgezeichneter, wenn auch sonderbarer Mann, der in jungen Jahren an den Pocken starb, sodass die Mutter auf Gedeih und Verderb seinem Sohn aus einer früheren Ehe ausgeliefert war. Doch dieser Sohn hatte weder die Weisheit seines Vaters noch dessen Liebe zu der schönen Mutter von Caroline geerbt, und da er sie als böse Stiefmutter und den Säugling als künftige Rivalin betrachtete, warf er beide hinaus. Die Mutter nahm die kleine Caroline in die Arme und floh mit ihr zu einem Haus tief in den Wäldern. Einige Jahre lebten die beiden fast wie Landstreicher, indem sie sich vorübergehend in den Häusern glücklicherer Verwandter aufhielten. Doch als das Mitgefühl ihrer Familie aufgezehrt war, blieb der Mutter nichts anderes übrig, als den ersten Freier zu heiraten, der des Weges kam: ein Unmensch, der als Kind einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Dieser Mann machte sich wenig aus Carolines Mutter und noch weniger aus Caroline. Er überließ sie beide einem elenden Leben am Rande seines Hauswesens, während er in aller Offenheit mit seiner abscheulichen, ignoranten und bösen Mätresse buhlte.
    Irgendwann starben sowohl der Stiefvater als auch die Mätresse an den Pocken. Nicht lange danach verschied auch Carolines Mutter und ließ die Kleine allein, mittellos und völlig verarmt zurück.
    Nur ein Erbstück ging beim Tode ihrer Mutter auf Caroline über, denn es war das Einzige, was weder Pestilenz noch Diebstahl ihr nehmen konnten: der Titel einer Prinzessin. Ohne dieses Erbe wäre sie bald in einem Armenhaus, einem Kloster oder Schlimmerem gelandet; doch weil sie, wie zuvor schon ihre Mutter, eine Prinzessin war, kamen zwei weise Männer und nahmen sie in einer Kutsche mit sich zu einem Palast in einer fernen Stadt, wo eine kluge und schöne junge Königin mit Namen Sophie Charlotte sie unter ihre Fittiche nahm und ihr alles gab, was sie brauchte.
    Von allem, was man Prinzessin Caroline in den folgenden Jahren bot, war vorzüglich zweierlei wichtig: erstens Liebe. Denn Sophie Charlotte war ihr zugleich wie eine ältere Schwester und eine Pflegemutter. Und zweitens Wissen. Denn in dem Palast gab es eine große Bibliothek, zu der einer der beiden weisen Männer – ein Doktor, welcher der Königin Mentor und Berater war – Caroline den Schlüssel gab. Sie verbrachte jede freie Minute in der Bibliothek, wo sie das tat, was sie am meisten liebte, nämlich Bücher lesen.
    Jahre später, nachdem sie zu einer Frau herangewachsen war und längst selbst Kinder hatte, sollte Caroline den Doktor einmal fragen, wieso er so klug gewesen sei zu erkennen, dass sie einen Schlüssel zur Bibliothek hatte haben wollen. Der Doktor erklärte: ›Als kleiner Junge habe ich selbst meinen Vater verloren, der wie der Vater Eurer Königlichen Hoheit ein sehr belesener Mann war. Doch später habe ich ihn dank der Lektüre der Bücher, die er hinterlassen hat, kennengelernt und seine Gegenwart in meinem Leben gespürt.‹«
    An dieser Stelle hielt Henrietta Braithwaite inne und legte die Stirn in geschmackvolle und höfliche kleine Falten. Ihr Finger pflügte sich in krummer Linie durch das Terrain des Absatzes zurück wie eine Schweineschnauze, die nach einem Trüffel schnobert. »Bis hierher recht gut, Eure Königliche Hoheit, doch die Geschichte wird wirr, wenn dieser Doktor auftritt und Ihr beginnt, zwischen den Zeiten hin- und herzuspringen und Dinge mit seiner Stimme zu erzählen – was, bitte schön, hat ein Doktor überhaupt in einem Märchen verloren? Bis hierher haben wir es nur mit Palästen, Stiefmüttern und Häusern in den Wäldern zu tun, was passt. Aber ein Doktor -?«
    »Es ist ja ein Märchen -«
    »Auf Englisch, wenn es recht ist, Eure Königliche Hoheit.«
    »Es ist zwar ein Märchen, aber es ist auch meine Geschichte«, sagte Prinzessin Wilhelmina Caroline von Brandenburg-Ansbach, »und in meiner Geschichte kommt ein Doktor vor.«
    Sie warf einen Blick zum Fenster hinaus. Die heutige Englischstunde fand in einem Salon des Leineschlosses auf der dem Fluss abgewandten Seite statt. Der Blick ging über einen kleinen,

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