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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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gepflasterten Hof, der an eine belebte Straße Hannovers grenzte. Leibnizens Haus lag nur zwei, drei Türen weiter – so nahe, dass sie eine philosophische Frage zum Fenster hinausrufen und halb mit einer Antwort rechnen konnte.
    »Das nächste Kapitel wird von Menschen und Ereignissen handeln, die nicht in Märchen vorkommen«, fuhr Caroline fort, nachdem sie kurz innegehalten hatte, um die englischen Worte in die richtige Reihenfolge zu bringen. »Denn was ich auf die Blätter geschrieben habe, die Ihr in Händen haltet, geht nur bis zu dem Zeitpunkt, da Sophie Charlotte gestorben ist – oder, wie manche sagen, vom preußischen Hof vergiftet wurde.«
    Mrs. Braithwaite bemühte sich gekonnt, ihr Entsetzen und ihren Abscheu davor zu verbergen, dass Prinzessin Caroline diesem Gedanken Ausdruck verliehen hatte. Nicht, dass die Engländerin den Höflingen, von denen es in Schloss Charlottenburg wimmelte, besondere Zuneigung entgegengebracht hätte. Mrs. Braithwaite, Frau eines englischen Whigs, hätte in so gut wie jeder denkbaren Debatte Sophie Charlottes Partei ergriffen – vorausgesetzt, sie hätte den Mumm, überhaupt Partei zu ergreifen. Was sie verstörte, war Carolines Direktheit. Doch die Fähigkeit, Dinge direkt anzusprechen und ungestraft damit davonzukommen, war ein Geburtsrecht, das mit dem Titel einer Prinzessin einherging.
    »Seit jenem schmerzvollen Tag sind in der Tat neun ereignisreiche Jahre verstrichen«, gestand Mrs. Braithwaite zu. »Doch für den gewöhnlichen Leser nähme es sich noch immer weitgehend wie ein Märchen aus, wenn Ihr nur ein paar Worte ändern würdet. Der Doktor könnte zu einem Zauberer werden, die betagte Kurfürstin zu einer weisen Königin – gegen diese Änderung hätte in England kein Mensch etwas!«
    »Außer sämtlichen Jakobiten, die Sophie den Tod wünschen«, gab Caroline zurück.
    Das war ein wenig so, als streckte sie vor Mrs. Braithwaite das Bein aus, während diese versuchte, mit gerafften Röcken auf Zehenspitzen durch eine mit Scheißhaufen übersäte Gasse zu trippeln. Die Engländerin kam ins Stocken und lief rosa an, verstummte aber nicht vollends. Wie jedermann in Hannover, einschließlich Carolines Mann, festgestellt hatte, war sie der Inbegriff von Haltung und Anmut. »Die anderen Figuren und Ereignisse Eurer vergangenen neun Jahre – der stattliche und tapfere junge Prinz, der lange Krieg gegen einen bösen König, ein verlorenes Königreich überm Meer, das von Rechts wegen Euch gehört und Emissäre schickt -«
    »Emissäre«, sagte Caroline, »aber auch noch andere umtriebige Menschen, die sich überhaupt nicht für Märchen eignen.«
    Mrs. Henrietta Braithwaite, Carolines dame du palais und Englischlehrerin, war außerdem die offizielle Mätresse von Carolines Ehemann. Caroline hatte eigentlich nichts dagegen, dass ihr »tapferer junger Prinz« unentwegt mit der Frau eines Engländers – noch dazu eines ziemlich windigen Engländers – schlief. Ganz im Gegenteil. Mit dem kurfürstlichen Prinzen Georg August zu schlafen war zwar öfter halbwegs angenehm als direkt schmerzhaft gewesen. Meistens aber hatte es sich, wie das Fingernägelschneiden, um eine körperliche Verrichtung gehandelt, die man nicht mehr als unfein empfand, wenn man sie ein paar hundertmal hinter sich gebracht hatte. Bis jetzt waren vier Kinder – ein Prinz und drei Prinzessinnen – daraus hervorgegangen, und es würden wahrscheinlich weitere folgen, falls Georg August nicht all seinen Samen in Henrietta Braithwaite ergoss. Die Ankunft der Engländerin am Hof von Hannover vor drei Jahren und ihre rasche Beförderung zur maîtresse en titre des jungen Hannoveraner Tapferen (wie Carolines Mann von britischen Whigs bezeichnet wurde) hatte Caroline einer der weniger faszinierenden Aufgaben enthoben, mit denen sie sich als Ehefrau und Prinzessin abfinden musste, und ihr mehr Zeit geschenkt, nachts zu schlafen und tagsüber zu lesen. Zwischen ihr und Henrietta herrschte also keineswegs Groll.
    Aber die Beziehungen zwischen einer, die Prinzessin, und einer, die keine war, waren streng geregelt, und zwar nicht davon, was die Prinzessin wirklich empfand oder dachte, sondern vielmehr von bestimmten Formen, die das reibungslose Funktionieren des Hofes und damit der säkularen Welt gewährleisten sollten. Unter diesem Aspekt stand Caroline – die vor Gott mit Georg August verheiratet und von ihrer Mutter mit der unglaublichen und unschätzbaren Fähigkeit ausgestattet worden war, neue

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