Principia
Verantwortlichen mit Schimpf und Schande in die Provinz schicken und durch andere ersetzen.
Ohnehin war das Leineschloss nicht von der Art, dass ein kultivierter Mensch sich danach umblicken würde. Die etwa hundert Schritte, die es von Leibnizens Haus trennten, überspannten eine architektonische Kluft. Leibnizens Haus war viel größer, als es einem Junggesellen eigentlich nottat, weil er mit einer Bibliothek zusammenlebte. Es war eine jener habsburgischen Hochzeitstorten mit einem dicken Zuckerguss aus Friesen, die absonderliche und abscheuliche Begebenheiten aus der Bibel darstellten. Im Vergleich dazu musste sich das Leineschloss über den Vorwurf der Protzigkeit keine Gedanken machen. Auf einem Kontinent, der mittlerweile mit mehr oder weniger peinlichen Nachahmungen von Versailles gesprenkelt war, gab sich das Leineschloss stolz als Landpomeranze. Es war zwischen der trägen Leine auf der einen und einer ganz gewöhnlichen Hannoveraner Straße auf der anderen Seite eingezwängt, würde also niemals einen Park oder auch nur einen anständigen Vorhof haben. Gewiss, ins Herz des Schlosses eingebettet war ein einziger, verblüffend protziger Raum, der sogenannte Rittersaal, den Sophies Mann dreißig Jahre zuvor gebaut hatte, nachdem Leibniz aus Italien zurückgekehrt war und belegen konnte, dass Georg mindestens so königlich war wie seine Sophie. Doch kein Mensch, der am Schloss vorbei die Straße entlangritt oder den Fluss hinabschwamm, käme auf den Gedanken, dass diese Mauern etwas Buntes, Prächtiges, Dekoratives oder Lebhaftes bargen. Es war ein Mischmasch mehrerer klotziger, vier Stockwerke hoher Flügel, belüftet von zahlreichen rechteckigen, einheitlich großen Fenstern, die in waagerechten und senkrechten Reihen angeordnet waren. Das Erste, was Prinzessin Caroline jeden Tag zu Gesicht bekam, wenn sie die Augen aufschlug, ihre Bettvorhänge auseinanderzog und zum Fenster schaute, um nach dem Wetter zu sehen, waren zwei sich schneidende Steinmauern mit Fensterfluchten, die sich in unendlicher logarithmischer Folge fortsetzten.
Der bloße Anblick würde Leibniz in tiefe Niedergeschlagenheit stürzen. Was für Caroline bloß langweilig war, machte ihm Kummer, weil er sich zum Teil dafür verantwortlich fühlte. Der Doktor war in den Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges aufgewachsen, als viele Städte überhaupt keine Gebäude gehabt hatten – nur Ruinen und armselige Hütten! Die Bauwerke, die überdauert hatten, waren Fachwerkkonstruktionen mit runden Schultern, so gleichförmig und doch abwechslungsreich wie ein Korb Äpfel. Die heutigen Gebäude jedoch waren von der Geometrie durchdrungen; das hieß, jedes verriet die spezielle Vorstellung von Geometrie, die seinem Architekten in der Schule eingetrichtert worden war. Hundert Jahre zuvor hätte dies vielleicht Parabeln, Ellipsen, Umdrehungsflächen, Involuten und Evoluten sowie parallele Kurven bedeutet. Inzwischen bedeutete es kartesische rechtwinkelige Koordinaten – das grausame Gitter, an dem alle diese sich emporschwingenden Bögen von den bemühten Algebraikern festgebunden worden waren. Ein Spielzeug für Hasen war unter die Schildkröten gefallen. Die nicht hilflose Minorität der Christenheit – diejenigen, die lesen und reisen konnten und keinen Hunger litten – hatte (so brütete Leibniz) nur die alleroberflächlichste Vorstellung davon gewonnen, was in der Naturphilosophie geschehen war, und, anstatt sich die Mühe zu machen, es wirklich zu verstehen, das kartesische Gitter als Reliquie oder Fetisch der Aufklärung vereinnahmt. Eine Folge waren kastenartige Gebäude. Leibniz konnte ihren Anblick nicht ertragen, weil er mehr als jeder andere für kartesische Koordinaten verantwortlich war. Er, dessen Laufbahn mit einer Epiphanie in einem Rosengarten ihren Anfang genommen hatte! Deshalb trafen er und Caroline sich in aller Regel nicht im Waffeleisen des Leineschlosses, sondern draußen vor den Wällen entlang den sanft geschwungenen Ufern der Leine oder in Sophies Garten.
Leibniz war nicht in der Stadt. Caroline wusste nicht, warum. Bei Hofe kursierende Gerüchte aus dem Osten besagten, dass sich die neue Flotte des Zaren in St. Petersburg sammelte und demnächst in die Ostsee vorstoßen würde, um sie von lästigen Skandinaviern zu säubern. Caroline und die meisten anderen Menschen, die in Hannover eine Rolle spielten, wussten, dass Leibniz irgendeine Nebentätigkeit für Peter Romanow ausübte. Vielleicht erklärte das die
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