Principia
vieler ausgewachsener Bäume und dichter Hecken einbilden, sie befände sich einen Tagesritt vom nächsten Gebäude entfernt. Diesen Teil liebten nicht nur sie und Sophie, sondern sogar Georg Ludwig, der mit vierundfünfzig noch immer den außen herumführenden Pfad entlangritt und sich vorstellte, er patrouillierte in den Marschen irgendeines Herzogtums im Grenzgebiet. Hier wurden die Sehlinien und die Bewegungsvektoren in schmale Lücken zwischen Baumgruppen gelenkt. Geräusche trugen seltsam weit oder wurden ganz und gar verschluckt. Dieser Teil mutete zehnmal so groß an wie die vordere Hälfte.
Hinten im Wald hatte ein strömendes Rauschen eingesetzt. Zunächst hätte man es für einen Windstoß halten können, der sich in den Ästen der Bäume fing. Doch es schwoll unaufhörlich an und wurde nun auch von prasselnden und zischenden Nebengeräuschen untermalt. Irgendwo weit außerhalb der Grenzen des Gartens stemmte sich ein Mann gegen ein großes Rad und flutete im Boden vergrabene Rohre, die Leine-Wasser hierher beförderten. Caroline raffte ihre Röcke und eilte zu einer nahegelegenen Kreuzung diagonaler Wege, wo sie sich nach innen wandte, zu dem großen, runden Becken, das in der Mitte der dunkleren und wilderen Hälfte des Gartens lag. Es war bereits in heftige Wallung versetzt. Aus einer Steinöffnung in der Mitte war ein senkrechter Strahl gedrungen und hatte sich gleichsam zu einer stumpfen Sonde geformt, die nach oben drängte wie die Nadel eines Segelmachers, die durch Schichten kräftiger Leinwand stößt. Im Größerwerden begann der Strahl einen Schleier sich windenden Dampfes von sich zu werfen. Von Carolines Standort aus mutete dieser fast wie Rauch an, der sich durch Reibung mit der Luft bildete. Der Strahl wurde höher und höher, bis es schließlich so schien, als würde er vom grauen Himmel zurückgeworfen (denn es hatte sich zugezogen). Dort zerbarst er zu einer zerfasernden Wolke von weißer Gischt. Der ganze Garten war inzwischen vom Tosen des künstlichen Unwetters durchdrungen, das die Illusion, es handele sich um einen wilden, entlegenen Ort, vollkommen machte. Die von der Fontäne emporgeschleuderten Dunstwolken trieben vom Becken nach außen, sickerten in die Gänge zwischen den Bäumen ein, verwischten, was nahe war, und löschten aus, was mehr als eine Bogenschussweite entfernt lag, sodass die Dinge in dieser schimmernden Wolke alsbald ihre Kontur einbüßten und mit der Dunkelheit der Bäume verschmolzen.
Das Land um den Garten herum war flach und wies keinerlei Anhöhe auf, von der aus man in ihn hätte hinunterspähen können. Nahebei gab es einen Kirchturm mit einem schwarzen, pyramidenförmigen Dach, das wie ein Inquisitor mit Kapuze drohend auf das heidnische Spektakel unten herabschaute. Falls jemand auf diesem Turm Caroline beobachtete, könnte sie hinter dem auf dem Kopf stehenden Katarakt der großen Fontäne verschwinden. Dadurch verschwände auch der finstere Turm aus ihrem Blick, und sie wäre vollkommen ungestört.
Der Wind kam von Süden. Er zerdehnte den Fontänendunst zu schimmernden, sich kräuselnden Vorhängen, die über das Becken wehten und den breiten Pfad hinaufjagten, der direkt zu Sophies Haus führte. Das Schloss war undeutlich sichtbar, wie in einem beschlagenen Spiegel betrachtet. Caroline meinte, auf einer der Treppen ein weißes Gewand mit einem Schopf weißer Haare darüber ausmachen zu können, dazu einen weißen Arm, der die vorgefahrene Kutsche wegwinkte und die angebotene Sänfte zurückwies.
Sophie sagte Caroline stets, sie solle sich in den Dunst stellen, weil das ihrem Teint guttue. Caroline hatte es ungeachtet aller Beschwernisse, die ihrer Haut widerfahren sein mochten, geschafft, zu heiraten und vier Kinder zu bekommen. Aber sie versuchte trotzdem immer, sich in den Dunst zu stellen, weil sie wusste, dass das Sophie gefiele. Der Dunst legte sich kalt auf ihre Haut und roch nach Fisch. Die Dunstschleier und -wirbel sahen aus wie auf sie zufliegende Seiten geisterhafter Bücher. Über dem Becken waren sie so weiß und greifbar, dass sie sie beinahe lesen konnte. Doch waren sie erst einmal an ihr vorbeigeflogen, verblassten sie rasch und verschwanden, aufgelöst von leerer Luft.
Ganz in ihrer Nähe am Rand des Beckens stand ein Mann. Er war schon zu nahe. Ein Fremder hätte sich eigentlich gar nicht im Garten aufhalten dürfen! Aber sie schrie nicht auf, denn er war sehr alt. Er sah nicht Caroline an, sondern die Fontäne. Er war halbwegs
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