Principia
Haferbrei vom unrasierten Kinn wischen können. Stattdessen bat er den Boten, unten zu warten, er werde in Kürze zu ihm stoßen.
Marlborough House wurde von einer Menschenmenge aus mehreren Hundert Engländern belagert, dem völlig übermüdeten Rest eines ekstatischen Pöbels, der den Herzog am Vortag mit Gesang durch die Straßen von London begleitet hatte: ein römischer Triumphzug, von disziplinlosen Plebejern spontan zusammengewürfelt.
Der Herzog und seine Herzogin hatten Dover spät am 2ten erreicht. Der gestrige Tag war einer nahezu königlich anmutenden Rundreise durch Rochester und andere befestigte Städte an der Straße nach Londinium gewidmet gewesen. Angesichts der vielen vornehmen Whigs, die gekommen waren, um in der Prozession mitzureiten, und der vielen einfachen Bürger, die die Watling Street gesäumt hatten, war Daniel der argwöhnische Gedanke durch den Kopf geschossen, an den von den Torys schon so lange verbreiteten Gerüchten, Marlborough sei die Wiederkunft Cromwells, könnte etwas Wahres dran sein. Nun hatte er zu seinem allerersten Levée auch Daniel eingeladen, der sich noch daran erinnern konnte, wie er als kleiner Junge auf Cromwells Knien gesessen hatte.
Neben dem St. James’s Palace, der allmählich aussah, als hätte jemand einen Haufen architektonischer Elemente in einen Kasten geworfen, entwickelte Marlborough House sich zu einem stattlichen Gebäude. Der Zaun um seinen Vorhof wirkte wie ein gewaltiges Sieb, das jeden bis auf Daniel aufhielt. Die Ausgeschlossenen hingen zu Trauben auf der anderen Seite und warfen, die Gesichter zwischen die Eisenstangen geklemmt, begierige Blicke herein. Auf dem Weg von der Kutsche, aus der man ihm heraushalf, bis zur Eingangstür fragte sich Daniel, wie viele der Draußenstehenden wussten, wer er war und was ihn mit dem schrecklichen puritanischen Kriegsherrn verband. Manche von ihnen mussten Spione der Torys sein, die Daniel bemerken und die Verbindung sofort parat haben würden. Daniel mutmaßte, dass er hierherbestellt worden war, um dem gesamten Torytum eine irgendwie bedrohliche Botschaft zu übermitteln.
Vanbrugh gestaltete das Haus in der Erwartung um, dass der Herzog sich dort für lange Zeit niederlassen würde. Ein großer Teil dieser Arbeit befand sich noch ganz im Anfangsstadium, und so musste einer von Marlboroughs Dienern Daniel unter Gerüsten und zwischen Stapeln von Ziegelsteinen und Holzbalken hindurchführen. Doch je weiter sie in das Gebäude vordrangen, desto weiter waren die Arbeiten gediehen. Das Schlafgemach des Herzogs war als Erstes fertiggestellt worden, und die weiteren Renovierungsarbeiten hatten hier ihren Ausgang genommen. Vor der von Grinling Gibbons geschnitzten Flügeltür überreichte eine Magd Daniel eine Schüssel mit dampfendem Wasser, die in Handtücher eingewickelt war, damit er sich nicht die Hände verbrannte. »Stellt sie neben Mylord ab«, lautete die Anweisung, und dann taten sich die Türen auf.
Wie ein Käfer auf einem Gletscher saß der Herzog von Marlborough in einem Sessel in der weißen Unermesslichkeit seines Schlafgemachs. Neben ihm stand ein Tisch. Auf dem Kopf hatte er dichte Stoppeln: Offensichtlich war Rasiertag, und dafür war es auch höchste Zeit; wie inzwischen jedermann wusste, waren der Herzog und die Herzogin aufgrund widriger Winde zwei ganze Wochen lang in Ostende festgehalten worden. Daniel, der sich mit Levées nicht besser auskannte als jeder andere Engländer, fürchtete einen Augenblick lang, dass er gleich gebeten würde, den Schädel des Herzogs einzuseifen und den Haarwuchs von zwei Wochen abzuschaben. Doch dann bemerkte er, dass unmittelbar neben ihm ein Kammerdiener dabei war, ein Rasiermesser zu schärfen, und nahm mit unermesslicher Erleichterung zur Kenntnis, dass man die Arbeit mit der Klinge einem erfahrenen Handwerker überlassen würde.
Von dem halben Dutzend, die zu dem Levée bestellt worden waren, traf Daniel als Letzter ein – so viel konnte er erkennen, obwohl seine Augen durch den Schein der Augustsonne geblendet waren, der von einigen Tonnen neuer Stuckaturarbeit reflektiert wurde. Die Decke war so hoch, dass man es einem Naturphilosophen verzeihen konnte, wenn er meinte, die Festons und Friese entlang der Decke seien aus natürlichen Ansammlungen von Schnee und Eis geformt.
Der Herzog trug einen Morgenmantel aus einem Material, das schimmerte und raschelte, und sein Hals war zur Vorbereitung auf die Rasur in Unmengen von Linnen eingewickelt worden.
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