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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Das Ganze war so weit von puritanischer Strenge entfernt, wie man es sich nur vorstellen konnte. Falls sich da draußen auf der Pall Mall irgendwelche Torys befanden, die sich ausmalten, Daniel sei gekommen, um die Fackel an den nächsten Cromwell zu übergeben, hätte ein kurzer Blick in diesen Raum ihre Befürchtungen zerstreut. Wäre Marlborough im Triumph heimgekehrt, um die Macht im Land zu übernehmen, hätte er das nicht als Militärdiktator, sondern als Sonnenkönig getan.
    Marlborough erhob sich halb von seinem Sessel und verneigte sich vor Daniel – der beinahe die Schüssel fallen ließ. Die anderen fünf Mitwirkenden beim Levée – Kerzenhalter, Hemdträger, Perückenpuderer, zumeist Grafen oder Höheres – verneigten sich noch tiefer. Daniel sah immer noch nicht viel, konnte aber Gekicher hören, während er die letzten paar Meter vorwärtswankte.
    »Dr. Waterhouse weiß noch nicht, was heute in Baron von Bothmars Kassette gefunden wurde«, mutmaßte der Herzog.
    »Ich gestehe, völlig unwissend zu sein, Mylord«, sagte Daniel.
    »Der Hannover’sche Gesandte Bothmar brachte eine Kassette mit, die nach dem Tod von Königin Anne geöffnet werden sollte. Sie enthielt Anweisungen Seiner Majestät darüber, wie das Königreich zu verwalten sei, bis Seine Majestät eintreffe, um Krone, Reichsapfel und Zepter in Empfang zu nehmen«, erklärte der Herzog. »Heute Morgen wurde sie in Gegenwart des Kronrats geöffnet und das Dokument verlesen. Der König hat fünfundzwanzig Regenten benannt, die an seiner statt handeln sollen, bis er selbst hier eintrifft. Ihr, Dr. Waterhouse, seid einer dieser fünfundzwanzig.«
    »Unsinn!«
    »Nein, das ist wahr. Und wenn wir uns nun vor Euch verneigen, Mylord, dann, um Eure Autorität als Regent anzuerkennen. Ihr und Eure zwei Dutzend Kollegen seid für uns im Augenblick das, was einem Souverän am nächsten kommt.«
    Daniel war noch nie zuvor mit »Mylord« angesprochen worden und hätte sicher nie gedacht, dass die erste Person, die das je tun würde, ausgerechnet der Herzog von Marlborough sein würde. Es bedurfte schon einer gewissen Geistesgegenwart, das Wasser nicht zu verschütten. Aber dank der helfenden Hand des Kammerdieners schaffte er es und trat, nun da er seine formale Pflicht erfüllt hatte, einen Schritt zurück. Der Kammerdiener ließ einen Schwamm in die Schüssel gleiten, wrang ihn aus und legte ihn wie eine durchnässte Krone auf den Kopf seines Herrn. Der Herzog zwinkerte sich ein Rinnsal aus dem Auge, hob das Kinn und begann, einige Papiere, die auf seinem Schoß lagen, durchzusehen – anscheinend bestand nämlich eine der Attraktionen des Levée darin, dem großen Mann beim Lesen seiner Post zuzuschauen.
    »Die Grub Street muss jetzt zehn Meilen lang sein«, bemerkte der Herzog, während er eine Zeitung nach der anderen beiseitewarf.
    »Womöglich wünscht Ihr Euch schon bald, sie wäre ein ganzes Stück kürzer.«
    »Ihr vielleicht nicht minder, Dr. Waterhouse – Eure neue Prominenz wird Euch zu einer Zielscheibe für unzählige Pfeile machen.« Marlborough hatte jetzt den Kopf nach hinten gelegt, damit die Seife ihm nicht in die Augen lief, was ihn in die ungewohnte Lage versetzte, nicht in seinen Schoß schauen zu können. Er tastete sich durch die dort liegenden Papiere, während goldene Manschettentroddeln hin und her flogen, und hielt immer wieder einmal etwas auf Armeslänge von sich. »Ah«, verkündete er, als er die Lens vom Tage fand, »ich gebe Euch das hier, Dr. Waterhouse. Gerade eben habe ich es diesen Herren vorgelesen, während wir auf den Nachzügler warteten – Ihr dürft es nun selbst lesen.«
    »Vielen Dank, Mylord, aber ich bin sicher, dass das weitaus unterhaltsamer war, als wenn Ihr mich pünktlich hier gehabt hättet.«
    »Ganz im Gegenteil, Mylord, eigentlich sollten wir ja Euch unterhalten«, sagte der Herzog und zuckte in seinem Sessel zusammen, als die Rasierklinge ein erhabenes Stück Narbengewebe abhobelte. Sein Kopf hatte mehr als genug an Hoch- und Tiefreliefs abgekommen, während er in den Kriegen gegen Ludwig XIV. den Tod von mehreren Hunderttausend Engländern, Franzosen und anderen Soldaten überwacht hatte. Jetzt lauerten sie unter Vierzehntagestoppeln wie Untiefen unter einem schlammigen Strom, unsichtbare Hindernisse für die Navigation der Klinge.
    »Was ist es denn, was ich lesen soll?«, fragte Daniel und streckte die Hand nach der ihm hingehaltenen Zeitung aus.
    Marlboroughs ungewöhnlich große und

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