Principia
entlang- und aus dem Gebäude hinausgeschritten war, hatten die Kirchenbesucher kaum ihren Augen getraut – wie wenn der langweiligste und hartnäckigste Tischgast der Welt um vier Uhr morgens endlich geht. Darauf waren noch eine halbe Stunde lang zuvor festgelegte Auszugsgesänge gefolgt, während deren die verschiedenen Gäste sich zurückgezogen und die Kirche verlassen hatten, um herumzustehen, zu zwinkern, sich unter die Leute zu mischen und zu plaudern. Alle Glocken von London läuteten. Der König und der Prinz und die Prinzessin von Wales waren schon längst ihrer getrennten Wege gegangen.
Das war der Moment, wo eine Hand Mr. Charles White auf die Schulter geklopft hatte. Als Hauptmann der King’s Messengers war er zu diesem Anlass in einer prächtigen, aber aus der Mode gekommenen Aufmachung erschienen. Doch selbst durch seine bequastete Epaulette hindurch hatte er die Hand auf seiner Schulter gespürt und gewusst, was sie bedeutete. Das war der Augenblick – behaupteten manche -, in dem er den hungrigen Blick bekam und seine Lippen sich teilten.
Er drehte sich zu dem Kerl um, der es gewagt hatte, ihn zu berühren. Doch dann erschrak er und hielt inne. Er hatte nach einem Ohr zum Abbeißen gesucht. Aber der Mann, der vor ihm stand – mittleres Alter, gedrungen, gut gekleidet, mit einer blonden Perücke – hatte an der rechten Seite seines Kopfes statt eines Ohrs nur eine klumpige Öffnung. Und das brachte Charles White so sehr aus der Fassung, dass er vollkommen an Schwung verlor. Als er sich umschaute, stellte er fest, dass mehrere Männer vornehmer und adliger Herkunft, sämtlich stadtbekannte Whigs, ihn unauffällig umstellt hatten und bereit waren, ihre Schwerter zu ziehen.
»Charles White, im Namen des Königs, Ihr seid verhaftet«, sagte der Mann in der blonden Perücke. Und in dem Augenblick erkannte White ihn: Es war Andrew Ellis. White hatte ihm vor zwanzig Jahren in einem Kaffeehaus vor den Augen von Roger Comstock, Daniel Waterhouse und einem Raum voller Whigs das Ohr abgebissen. Ellis war inzwischen Viscount oder so etwas Ähnliches und ging im Parlament ein und aus.
»Ich erkenne den unrechtmäßigen König nicht an«, verkündete White – unter den gegebenen Umständen ziemlich unhöflich -, »aber was ich anerkenne, ist die Bedrohung durch diese Waffen, die Ihr liebend gern ziehen würdet, und deshalb werde ich als ein Mann, der von Schwarzgardisten entführt wird, unter Zwang mitkommen.«
»Nennt es Entführung oder sonst etwas«, sagte Ellis, »aber täuscht Euch nicht, es ist eine Verhaftung auf Anordnung des Lordkanzlers.«
»Und wie lautet die Anklage, wenn ich fragen darf?«
»Dass Ihr auf Geheiß des Königs von Frankreich mit einem gewissen Jack Shaftoe und Édouard de Gex konspiriert habt, um den Freibezirk des Tower widerrechtlich zu betreten und die Pyx zu manipulieren.«
»Jack Shaftoe ist also eingeknickt«, murmelte White, während er inmitten dieses Knotens aus bewaffneten Whigs über den Old Palace Yard zu den Stufen geführt wurde, wo ein Boot wartete, um ihn hinunter zum Tower zu bringen.
»Er hat Euch denunziert «, erwiderte Ellis. »Niemand weiß, ob er eingeknickt ist oder seine eigenen Ziele verfolgt.«
»Seine eigenen«, ergänzte White, »oder die von jemand anderem.«
Doch das amüsierte die Männer nur, die ihn festnahmen oder entführten, und so wären sie jedem Passanten, der ihnen vom Themseufer aus dabei zugeschaut hätte, wie sie ihre Beute in eine wartende Flussbarke packten, als eine fröhliche Schar von Engländern erschienen, die sich freuten, einen neuen König zu haben und dessen Krönung überlebt zu haben.
Gerichtshof Old Bailey
20. OKTOBER 1714
»Schuldig!«, verkündete der Richter.
»Das habe ich doch gesagt«, erwiderte Jack. Er sorgte sich, dass der Richter sein Schuldanerkenntnis nicht gehört hatte. Seine Stimme war geschwächt, weil der tagelange Widerstand gegen ein Gewicht von dreihundert Pfund seine Atemmuskulatur hatte erschlaffen lassen. Und die anderen Leute, die diese kleine schmutzige Fläche mit ihm teilten, machten viel mehr Lärm, als er zu machen in der Lage war.
»Dieses Gericht befindet Euch, Jack Shaftoe, des Hochverrats für schuldig!«, sagte der Richter nur für den Fall, dass es in dem Lärm untergegangen war.
»Dieses Gericht muss mich nicht für schuldig befinden, denn ich habe mich selbst schon so bekannt!«, protestierte Jack, aber es war zwecklos.
Ihm war leicht schwindelig geworden, als man ihm die
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