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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dem Boden des Newgate-Gefängnisses mit dreihundert Pfund Gewicht auf der Brust und habt noch sechzig Sekunden zu leben. Da mutet es mich doch seltsam an, dass Ihr Euch in einem solchen Augenblick Sorgen darum macht, in eine Falle gelockt zu werden!«
    »Ich will mich nur nicht noch einmal zum Narren machen lassen, das ist alles. Ich verlange nichts anderes als ein bisschen Stolz.«
    »An Stolz fehlt es Euch nicht. Davon habt Ihr reichlich. Hat er Euch eingebracht, was Ihr begehrt? Nein. Was Euch fehlt, ist nicht Stolz , was Euch fehlt, ist Glaube .«
    »Ach du heiliger Strohsack!«
    »Nun gut. Einmal ganz abgesehen davon, würde es Euch nicht gefallen, noch neun Tage länger zu bleiben, nur um zu sehen, wie alles ausgeht?«
    »Falls zu sterben bedeutet, auf einer Daseinsebene mit Euch zu enden und noch mehr von Eurem Geschwätz ertragen zu müssen, dann hören sich neun Tage hier allmählich ziemlich gut an.«
    »Also -?«
    »Also gut. Was soll’s. Ich werde mich bekennen.«
    »Sprecht lauter!«, flehte de Gex ihn an. »Sie können Euch nicht hören! Sie lauschen der fernen Trompetenfanfare!«
    »Komisch, ich auch – ich habe mir vorgestellt, ich wäre gestorben und das wären die Engel, die goldene Hörner für mich blasen!«
    »Das ist der Trompeter des königlichen Hofstaats, der Georg Ludwigs Einzug in die Westminster Abbey verkündet. Und dazu die Trommeln seiner feierlichen Prozession!«
    »Ich werde mich bekennen, verdammt noch mal!«, rief Jack, »und jetzt nehmt schon diesen Mist von mir runter und werft den Geist da raus.«

Westminster Abbey
    20. OKTOBER 1714
    Später würden die Standespersonen, die es miterlebt hatten (ebenso wie die, die andere nur glauben machen wollten, sie hätten es miterlebt), schwören, dass die Lippen des Schurken sich geteilt und seine Zähne sich entblößt hatten und dass sich ein hungriger und wilder Ausdruck auf sein Gesicht gelegt hatte. Charles White war nämlich ein großer Mann im Land gewesen, und ihn zu Fall zu bringen war kein leichtes Unterfangen. In den Köpfen der Leute musste er zuerst in eine Art Biest verwandelt werden.
    Es geschah an der westlichen Seite der Westminster Abbey. Sämtliche bedeutenden Persönlichkeiten Großbritanniens sowie Gesandte und andere Gäste aus anderen Königreichen standen herum, durch mehrere Stunden in der Kirche leicht benommen. Georgs Krönung war nämlich nicht mehr und nicht weniger als ein ungewöhnlich langwieriger Gottesdienst gewesen, hier und da gewürzt durch die Vorführung der farbenprächtigsten Ornate diesseits von Shahjahanabad. Durch verschiedene Einzugs- und Auszugsgesänge hindurch hatten sie gesessen oder gestanden und jedes Mal, wenn der König eine Fliege verscheucht hatte, war die Reaktion darauf eine fünfzehnminütige Fanfare und eine feierliche Beschwörung gewesen. Der Erzbischof, der Lordkanzler, der Oberzeremonienmeister und alle bis hinunter zum Bluemantle-Unterherold hatten sich gegenseitig befragt, um sich zu versichern, dass Georg Ludwig von Hannover der Richtige war, hatten es dann doppelt und dreifach geprüft und außerdem ganze Gestühle voller Bischöfe, Peers, Adliger etc. einbezogen, die nichts mit einem raschen Nicken oder Daumenhochstrecken bestätigen konnten, sondern in dreifacher Ausfertigung schwülstige Periphrasen hinausbrüllen mussten, jedoch immer dann nachließen, wenn es der Trompetenabteilung, dem Organisten oder dem Chor einfiel, für die nächste halbe Stunde in eine freudige Polyphonie auszubrechen. Ein reger Verkehr aus Bibeln, Bischofsstühlen, Kelchen, Hostientellern, Ampullen, Löffeln, Prozessionsmänteln, Sporen, Schwertern, Roben, Reichsäpfeln, Zeptern, Ringen, Diademen, Medaillen, Kronen und Amtsstäben hatte das Kirchenschiff erfüllt, als plünderte eine Horde unterbeschäftigter Kleriker und Peers gerade das vornehmste Leihhaus der Welt, und nicht ein winziger Teil dieser Beute konnte von Punkt A nach Punkt B bewegt werden, ohne dass mehrere Gebete und Hymnen den glanzvollen und zugleich furchtbar ernsten Charakter dieses Ereignisses unterstrichen. Gebete gab es in Hülle und Fülle. Der Name unseres Herrn war fast abgenutzt. Christus brannten die Ohren. Alles hallte ziemlich laut wider. Spuckeschlieren breiteten sich zwischen den Füßen von Trompetern aus. Blasebalgtreter wurden mit geplatzten Eingeweiden hinuntergeschickt. Und den Sängern des Knabenchors wuchsen schon Bärte.
    Als der neue König in seiner purpurnen Robe endlich schwerfällig den Mittelgang

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