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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Gewichte von der Brust genommen und ihn reichlich mit Licht, Essen und Wasser versorgt hatte, nachdem er aufgegeben und gestanden hatte, in den Tower von London eingedrungen zu sein, und Charles White die Schuld für das Ganze gegeben und sich bereit erklärt hatte, hier herunterzukommen und ein Bekenntnis abzulegen. Deshalb sah er die Dinge auf eine sonderbare Weise, wie ein Reisender aus China, dem alles unglaublich merkwürdig vorkommt. Hier war irgendeine Art Gerichtsverfahren im Gange, das mit ihm zu tun hatte. Aber er hatte überhaupt nicht aufgepasst. Er brachte es einfach nicht über sich, dem Perücke tragenden Kerl da oben auf dem Balkon zuzuhören. Die Szenerie unten um ihn herum fand er viel interessanter.
    Das Wort Gerichtshof enthielt das Wort Hof. Ein Fleckchen Erde. Ein Streifen Dreck. Manche Höfe wie zum Beispiel der auf der Isle of Dogs in Jacks Kindheit waren von Wäldchen umgeben und voller Schweine und Schweinescheiße. Andere Höfe waren von Steinmauern mit Schießscharten für Bogenschützen umgeben; die Leute in solchen Höfen hatten es in der Regel besser als die, die ihre Höfe mit Schweinen teilten. Die Königin hatte einen Hof. Nein, durchstreichen, die Königin war tot. Lang lebe der König! Der König hatte einen Hof. Dort wimmelte es von Höflingen. Die Theater in Southwark waren eine besondere Art von Hof. Es gab noch Unmengen anderer spezieller Höfe, zum Beispiel Hühnerhöfe, Vorhöfe und Schlachthöfe. Eine ganze Kategorie von Höfen war der Aufgabe gewidmet, bösen Männern Strafen aufzuerlegen. Dieser, der Old Bailey, war so einer.
    Jack hatte familiäre Beziehungen zur irischen Nation und wusste, dass Baile Atha Cliath ihr Name für die Stadt Dublin war. Bailey schien einfach ein anderes Wort für Gerichtshof zu sein. Der Bailiff (Gerichtsdiener) brachte einen zum Bailey (Gerichtshof), wo man in den Bail-Dock (Warteraum für Häftlinge) kam, und den Bailiwick (Amtsbezirk eines Bailiffs) durfte man nur verlassen, wenn man Bail (eine Kaution) stellte.
    Während Jacks geistigen Exkurses zum Thema Gerichtshöfe und Baileys hatte der Richter oben auf dem Balkon erst eine Flut von juristischem Kauderwelsch und dann einen Sermon über Jacks falschen Lebenswandel und den falschen Lebenswandel seiner Mutter und den seines Vaters und den von deren Müttern und Vätern bis zurück zum Stammvater ihrer Sippe, mutmaßlich einem gewissen Kain, losgelassen. Wegen des allgemeinen Lärms drang nur wenig davon an Jacks Ohren und, weil er nicht hinhörte, noch weniger in seinen Kopf. Er wusste, was der Richter sagte: dass Jack ein schlechter Mensch war – mehr als schlecht, um ehrlich zu sein – so unvergleichlich und überragend schlecht, dass er auf die grausamste und folglich unterhaltsamste Weise, die der englische Geist sich nur ausdenken konnte, zu Tode gebracht werden musste.
    Der Old Bailey beschäftigte einen sogenannten Gerichtsausrufer, dessen wichtigste Fähigkeit darin bestand, dass er durch bloßes Anschreien einer Glasplatte seine Worte in sie einzugravieren vermochte. Der wurde von Zeit zu Zeit eingesetzt, um den Aufruhr zu ersticken. Das gemeine Volk in diesem Gerichtshof kümmerte sich nämlich keinen Deut um die Worte der Richter. Den Ausrufer dagegen respektierte es wegen dessen Lautstärke. Und die brachte er jetzt zum Tragen: »Hört! Hört! Hört! Mylords, die Richter des Königs, befehlen und gebieten strengstens allen Anwesenden unter Androhung von Gefängnisstrafe, Stille einzuhalten, während das Todesurteil über den vor Gericht stehenden Gefangenen gesprochen wird.« Als er fertig war, hatte die Menge seine Worte wirklich schon befolgt. Niemand sprach mehr, abgesehen von einigen in den Ecken versteckten einfältigen und/oder tauben Nachzüglern, die von den anderen schnell zum Schweigen gebracht wurden. Stille war um Newgate herum ein seltenes Gut, und zerbrechlich dazu; das hier war jedoch eine ganz andere Art von Stille, sie war ansteckend wie die Blattern.
    Der Richter stand auf und trat schwerfällig ans Geländer seines Balkons. Er war offensichtlich schlecht gelaunt. Er hätte lieber bei den Krönungsfeierlichkeiten auf die Gesundheit des frischgebackenen Königs getrunken. Diesen Tag hätte man wirklich im ganzen Land zum Feiertag erklären sollen. Es war ungewöhnlich, dass hier an einem solchen Tag ein Gerichtsverfahren im Gange war! Welche Erklärung gab es dafür? Gewisse Mächte mussten mit einem langen Hirtenstab in eine höfische Festlichkeit gelangt

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