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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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schwarzen Schleier trug, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber sie wollte offenbar das seine sehen. Er war im Begriff, sich in eine höchst angenehme Träumerei darüber gleiten zu lassen, als er plötzlich durch Laternenlicht gestört wurde, und dann durch eine Hand, die ihn an der Schulter schüttelte. Er öffnete die Augen einen Spalt, brummte etwas und schloss sie wieder. Das Licht schwand, da es auf etwas anderes gerichtet wurde. Jack schlug die Augen ganz auf und schaute hoch in das Gesicht von Sir Isaac Newton.

Der Galgen, Tower Hill
    MORGENDÄMMERUNG, 22. OKTOBER 1714
    Als es so hell geworden war, dass sie sich fortbewegen konnten, ohne flammende Gegenstände zu tragen, kamen vier Männer an dem Gerüst zusammen, das mitten auf dem Tower Hill stand. Zwei kamen vom Meer her: ein schwarzer Mann und ein kleiner Rothaariger mit einem Haken anstelle einer Hand. Zwei traten aus dem Bollwerk, den äußeren Befestigungsanlagen des Tower; beide Gentlemen, aber zu Fuß, von mehreren Torwächtern umgeben und in gebührender Entfernung von einem halben Dutzend berittener Dragoner gefolgt.
    Der Galgen würde heute nicht benutzt werden, außer als Orientierungspunkt, an dem die beiden Gentlemen vom Tower und die zwei Seefahrer sich treffen konnten. Der Tower Hill war nämlich eine Fläche von beachtlicher Ausdehnung, hauptsächlich offenes Exerziergelände, aber durch die Erdwälle, an denen die Garnison des Tower Übungen für Belagerungskriege auf dem Festland durchführen konnte, hier und da etwas unübersichtlich geworden. Für die Duellanten wäre es nicht zweckmäßig gewesen, auf der Suche nach dem anderen umherzuirren, bis das Tageslicht das Land überflutete, und so hatten sie vereinbart, sich an dem Gerüst zu treffen, wo manchmal vornehme Insassen des Tower hingerichtet wurden. Die Torwächter, die die beiden Gentlemen von den Toren des Bollwerks aus begleitet hatten, fielen zurück, sobald die Balken des Gerüsts in Sicht kamen, und hielten einen gewissen Abstand. Die rechtliche Seite war interessant. Es war nichts Außergewöhnliches, dass ein adliger Gefangener im Freibezirk des Tower, zu dem auch der Tower Hill gehörte, spazieren ging. Auch nicht, dass ein solcher Gefangener auf seinen Streifzügen von Yeomen, den Torwächtern des Tower, beobachtet wurde, um sicherzustellen, dass er nicht entfloh oder verräterische Absprachen mit freien Männern traf. Sich zu duellieren war jedoch ein illegales, wenn auch häufig praktiziertes Unterfangen. Und so konnte man davon ausgehen, dass Charles White, mit dem stillschweigenden Einverständnis des stellvertretenden Kommandanten des Tower, schon vorher gekommen war. Er würde einen frühmorgendlichen Spaziergang auf dem Tower Hill machen. Irgendwann würden die Wächter ihn im Nebel für ein paar Minuten aus den Augen verlieren. Man würde ein oder zwei Pistolenschüsse hören. White würde tot oder lebendig gefunden werden. Im Fall seines Todes würde man ihn begraben; falls er überlebte, würde er in seine Unterkunft im Tower zurückkehren. So oder so hätte man eine Erklärung für den Vorfall: Die Spaziergänger waren Straßenräubern in die Hände gefallen; es hatte einen Kampf gegeben; White hatte einem der Angreifer eine Pistole entrissen etc. Das war fadenscheinig, aber auch nicht fadenscheiniger als die anderen Geschichten, die üblicherweise zur Erklärung eines Duells erfunden wurden. Folglich hielten die Wächter Abstand, um den Lügen, die sie in einer Stunde würden erzählen müssen, Nahrung zu geben; die Dragoner dagegen schwärmten aus, um das Gebiet zu umstellen, damit es White nicht gelang, in die nur hundert Laufschritte entfernten Straßen Londons zu fliehen.
    »Wo sind die Pistolen?«, fragte White.
    Wären sein Kontrahent und dessen Sekundant Gentlemen gewesen, hätte er sie zuerst begrüßt. Sie waren jedoch Seevagabunden, und deshalb wählte er diese Art der Begrüßung.
    »Pistolen? Was für Pistolen?«, fragte Dappa.
    »In Eurem Brief habt Ihr behauptet, Ihr würdet dafür sorgen, dass zwei gleiche Pistolen zur Verfügung stehen«, sagte White, der einen Dummejungenstreich vermutete.
    »Ich habe gesagt, ich würde Feuerwaffen beschaffen«, präzisierte Dappa, »und Euch wählen lassen. Wenn Ihr nun bitte mir und Kapitän van Hoek folgen wollt, werde ich Euch die erste davon zeigen.« Und Dappa schritt in den Nebel hinein. Van Hoek trat aus dem Weg, um White und seinen Sekundanten – einen jungen Herrn namens Woodruff –

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