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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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den Arm und schlenderte zur Westseite der Fahrbahn hinüber und bis auf Armeslänge an den Grauhaarigen im hellrosa Rock heran. Dann packte er den Kopf mit beiden Händen, schrie: »Achtung! Kopf kommt, Kamerad!«, und warf ihn hinunter. Daniel konnte die Flugbahn zwar nicht sehen, jedoch an der Haltung des Werfenden und des Rosarocks ablesen, die sie sorgfältig verfolgten: stille Erwartung, während der Kopf eine Parabel nach unten beschrieb, Schock und Entsetzen, als unten jemand patzte, und schließlich schlagartig Erleichterung, als er doch aufgefangen wurde. Der Mann, der ihn geworfen hatte, machte zackig wie ein exerzierender Soldat kehrt. Sein Gesicht sah ganz so aus, als hätte ihn gerade eine Kanonenkugel verfehlt. Er marschierte zurück zum Great Stone Gate.
    Daniel spazierte hinüber und nahm seinen Platz ein. Ein Blick über das Brückengeländer zeigte ihm die flache Oberseite des darunterliegenden Pfeilerkopfes: eine Schotterfläche, umschrieben von Pfahlwerk, knapp armlang aus dem Wasser ragend. Dort unten standen noch zwei Rotröcke und beaufsichtigten, wenn auch aus einigem Abstand, die Arbeit zweier weiterer Unglücklicher, die von teilweise verwesten und skelettierten Köpfen umgeben waren. Die beiden arbeiteten trotz der Kälte mit bloßem Oberkörper, wahrscheinlich weil ihr Rücken von Peitschenstriemen gezeichnet war, die noch immer bluteten. Aber auch sie waren kräftige junge Männer. Daniel vermutete, dass es sich um gemeine Soldaten handelte, die sich irgendeiner Verfehlung schuldig gemacht hatten und nun, als Teil ihrer Strafe, gezwungen wurden, diese Arbeit zu verrichten. Sie bestand darin, die zu ihnen herabgeworfenen Köpfe aufzufangen und mit einer Handsäge die Schädeldecke davon abzutrennen.
    Während Daniel das Geschehen in sich aufnahm, führte einer von ihnen seinen Schnitt zu Ende, und eine Schädeldecke fiel zu Boden. Er hob sie auf, inspizierte sie rasch und warf sie dann senkrecht in die Luft. Der Mann neben Daniel fing sie auf dem Scheitelpunkt ihres Fluges auf und musterte sie gründlich. Daniel dem Naturphilosophen schien das Exemplar in ausgezeichnetem Zustand zu sein: die Nähte gut geschlossen, der Knochen dick und robust.
    »Wenn Ihr mit mir redet, Daniel Waterhouse, so kann ich Euch nicht hören«, sagte der Mann. »Im Gegensatz zu anderen Männern, deren Gehör zum Teufel gegangen ist, habe ich mir beigebracht, weder zu schreien noch unentwegt zu faseln. Ihr aber müsst vielleicht beides tun.«
    Nun bemerkte Daniel, dass Bob Shaftoes Rock eine Armeeuniform war, die durch das Waschen viel von ihrer einst roten Farbe eingebüßt hatte. Daraus und aus der Tatsache, dass sie sorgfältig geflickt war, schloss er, dass Bob eine Frau hatte.
    »Abigail geht es gut, vielen Dank«, verkündete Bob. »Verzeiht mir meine Vermessenheit, aber Männer mit schlechten Ohren müssen lernen, Gedanken ebenso wie Lippen zu lesen; und wenn Ihr Euch nicht nach ihr erkundigen wolltet, so seid Ihr selbst schuld.«
    Daniel lächelte und nickte. »Was zum Teufel macht Ihr hier?«, brüllte er und deutete auf den Schädel.
    Bob seufzte. »Die Leute von der Münze haben viel Silber eingeschmolzen, das man vor der Nordküste von Südamerika einer Schatzgalleone abgenommen hat. Wenn es schmilzt, steigen bestimmte Dämpfe davon auf – sicherlich wisst Ihr mehr darüber als ich -, und die Männer, die diese Dämpfe einatmen, werden krank. Es gibt nur ein Heilmittel. Sir Isaac hat es von deutschen Münzern erfahren, die er während der Großen Neuprägung in Dienst genommen hat. Man muss Milch aus einem Menschenschädel trinken. In letzter Zeit sind mehrere Münzarbeiter krank geworden; deshalb hat man Order gegeben, Schädel und Milchkühe zu beschaffen. Und was macht Ihr hier, Herr?«
    »In London? Ich -«
    »Nein, hier«, sagte Bob und zeigte auf das Pflaster zwischen Daniels Füßen. »Wo Ihr mich wie einen Käfer beobachtet.«
    »Ich war in einer anderen Angelegenheit im Tower, und da kam mir der Gedanke, Euch einen Besuch abzustatten.«
    Bob schien nicht ganz sicher zu sein, dass Daniel die Wahrheit sagte. Er wandte den Blick von Daniels Gesicht und schaute hinaus über den Fluss in Richtung Whitehall. Sein Daumen hatte einen losen Kopfhautlappen entdeckt, der über den Rand der Schädeltasse stand, und nun pulte er geistesabwesend daran. Der Verstorbene war ein Mann mit kurzgeschorenem, rotem Haar und einer kahlen Stelle mit Sommersprossen gewesen. »Ich stehe nicht zur Verfügung«, sagte

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