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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ein Pfeilerkopf unterfing das letzte der alten, aus Lehm und Flechtwerk bestehenden Häuser und das Great Stone Gate, und die Feuerschneise zwischen ihnen, oberhalb der Fahrbahn, entsprach in ihrer Länge dem breiten Steinbogen, der den Raum zwischen den Pfeilerköpfen unten überspannte. Die von diesem Bogen gebildete Wasserschlucht hieß Rock Lock und war von den zwanzig Brückenfeldern der London Bridge das breiteste. Passagieren, die bereit waren, den Stromschnellen der Brücke zu trotzen, bot man zuweilen an, einen Umweg bis hierher zu machen und Rock Lock zu nehmen, das, weil es die breiteste, auch die am wenigsten gefährliche Durchfahrt war; doch dies zu tun wurde von eingefleischten Anhängern des Unter-Brücken-Hindurchflitzens allgemein als eines Mannes unwürdig verachtet.
    Die diversen Feuerschneisen der Brücke übten eine rätselhafte Anziehungskraft auf kontemplative oder geistesgestörte Londoner aus. Daniel kam an einem – er wusste nicht recht, von welcher Kategorie – vorbei, der mit dem Rücken zur Fahrbahn stand und stromaufwärts blickte. Er trug einen blassrosa oder fleischfarbenen Rock. Er genoss nicht den Blick auf das ferne West-London. Vielmehr war sein zernarbter Kopf mit dem grauen, kurzgeschorenen Haar gebeugt, und er schaute auf den Brückenkopf unten hinab. Dabei gestikulierte er mit einem Spazierstock aus Ebenholz und sagte: »Obacht, Obacht, denkt daran, was die ganze Übung bezweckt – wenn das Ding einen Riss abkriegt und die Milch rausläuft, kann man es gleich bleiben lassen.« Die Worte klangen verrückt, doch er sprach sie mit der müden Geduld eines Menschen, der schon lange Leute herumkommandiert.
    Auf einer Seite der Fahrbahn war ein Soldat im roten Rock platziert, der den Hals derart verdreht hatte, dass er fast senkrecht nach oben schaute. Daniel trat zur Seite, um nicht überfahren zu werden, und folgte dem Blick des Soldaten zum oberen Teil des Great Stone Gate, wo zwei junge Männer in schmutzigen alten Hemden bei der Arbeit waren.
    Neben Ludgate, Temple Bar, Aldgate etc. war dies eines der alten Stadttore Londons. Und gemäß einer altehrwürdigen, den meisten wohlgeordneten christlichen Nationen gemeinsamen Tradition wurden an solchen Toren die Überreste hingerichteter Verbrecher zur Schau gestellt, um Besuchern, die des Lesens unkundig waren, zu bedeuten, dass sie eine Stadt betraten, die Gesetze hatte und sie mit Gusto durchsetzte. Um diesen Vorgang zu vereinfachen, war der Turm auf dem Great Stone Gate oben mit langen Eisenspießen ausgestattet, die wie das schwarze Strahlen der Krone eines gefallenen Engels fächerförmig von den Zinnen ausgingen. Zu jeder beliebigen Zeit konnte man auf deren Enden ein, zwei Dutzend Köpfe in unterschiedlichen Stadien der Verwesung stecken sehen. Wenn vom Tower Hill oder von einem der Hinrichtungsplätze der Stadt ein neuer gebracht wurde, schufen die Torwächter Platz dafür, indem sie einen der älteren in den Fluss warfen. Freilich verfuhr man hier, wie in jedem anderen Bereich englischen Lebens, streng nach gesellschaftlichem Rang. Bestimmte Köpfe, etwa die adeliger Verräter, die im Tower hingerichtet worden waren, durften weit über ihr Verfallsdatum hinaus bleiben. Taschen- und Hühnerdiebe hingegen wurden so rasch durchgeschleust, dass die Raben kaum Zeit hatten, sich einen vernünftigen Imbiss aus ihnen herauszupicken.
    Anscheinend war gerade eine solche Operation im Gange, denn Daniel hörte irgendeinen befehlsgewohnten Menschen auf dem Turm die Männer in den zerlumpten Hemden zurechtweisen: »Denkt – nicht – einmal – daran, den da auch nur anzufassen, das ist Baron Harland of Harland – Veruntreuung, 1707, hängt an einem dünnen Faden, wie ihr sehen könnt... ja, den da dürft ihr euch näher anschauen.«
    »Danke, Sir.« Einer der armen Teufel packte einen eisernen Spieß, hob ihn vorsichtig aus der Halterung und schwang ihn herum, sodass der auf dem vorderen Ende steckende Kopf dem anderen armen Teufel ins Gesicht sah – worauf dieser, wie ein Phrenologe, den Schädel überall abtastete.
    »Ich glaub, der da ist heile, Sir. Er gibt nicht nach, wenn ich ihn drücke.«
    »Bringt ihn runter«, rief der rotberockte Soldat auf der Fahrbahn.
    Kurz darauf tauchte der arme Teufel aus einer Pforte zu ebener Erde auf, nachdem er die Innentreppe offenbar mit großer Heldenhaftigkeit und Behendigkeit herabgestiegen war. Er hielt den Kopf dem Soldaten zur Ansicht hin, dieser nickte flüchtig, klemmte ihn sich unter

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