Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
Warte am oberen Ende der Treppe aus sehen. Aus dem zerstörten Schiff drangen noch immer wirbelnde Hitzewellen. Durch sie hindurch sah er ein unheimlich verzerrtes Bild von Männern, die in kleinen Booten hin- und herruderten und in ganz ähnlicher Stimmung, wie andere Männer bei der Bärenhetze zugesehen hatten, die Katastrophe begafften.
    Daniel stieg die Treppe von der Straße zur Werft hinunter. In den raucherfüllten Gassen zwischen den Materialstapeln roch es wie nach einem gewöhnlichem Brand, was zu erwarten war. Doch als Beimischung zu diesem Geruch erschnupperte Daniel zu seiner Überraschung noch einen scharfen, in der Nase stechenden Duft, der nicht hierher gehörte: einen chemischen Dunst. Er hatte ihn erst unlängst im Crane Court gerochen, am Abend seiner Ankunft, kurz nachdem die Höllenmaschine explodiert war. Davor hatte er ihn in seinem Leben schon viele Male wahrgenommen, zum ersten Mal aber bei einer Zusammenkunft der Royal Society vor vierzig Jahren. Der Ehrengast: Enoch Root. Das Thema: ein neues Element mit Namen Phosphor. Lichtträger. Eine Substanz mit zwei bemerkenswerten Eigenschaften: sie leuchtete im Dunkeln, und sie entzündete sich leicht. Er spürte den scharfen Stich eines beginnenden Schuldgefühls, weil er glaubte, das Ganze sei vielleicht ein schreckliches Missgeschick, das ihm zuzuschreiben war. Vielleicht war bei den Sachen aus dem Crane Court auch eine Phosphorprobe gewesen, die sich irgendwie entzündet und den Brand verursacht hatte, und Kikin hatte ihn herbeizitiert, um ihn zur Rede zu stellen. Das war extrem unwahrscheinlich – ein schönes Beispiel für die unsinnigen Ängste, die er weiterhin von Zeit zu Zeit auszustehen hatte. Er ging seine Palette inspizieren und stellte fest, dass nichts dergleichen geschehen war.
    Orney und Kikin fand er in einem der übriggebliebenen Schiffe. Es war noch immer mit triefendem Segeltuch drapiert, vermutlich für den Fall, dass das Feuer im mittleren Schiff wieder aufflammte. Orney und Kikin wanderten auf einem Streifen provisorischer Beplankung – einer Art Gerüst – den Schiffsrumpf in ganzer Länge auf und ab. Daniel nahm an, dass man diese Planken verlegt hatte, damit die Arbeiter Zugang zum oberen Teil der Rippen hatten, doch unter den gegenwärtigen Umständen gaben sie einen passenden Kommandound Beobachtungsposten für den Eigentümer und seinen Kunden ab.
    Sie besahen sich das merkwürdige Schauspiel, wie Daniel eine Leiter erstieg, dann – da er es überlebt hatte – begrüßten sie ihn. Orney lächelte auf eine Weise, wie man es häufig bei Leidtragenden auf Beerdigungen erlebte. Kikin – was für Gefühle auch immer er früher am Tage empfunden haben mochte – war nüchtern, geschäftig, bei der Sache, an allem interessiert. »Ihr seid gekommen«, sagte er mehr als einmal, als wäre das eine bedeutsame Feststellung.
    Norman Orney wischte sich das aschige Gesicht mit einem Zipfel feuchter Leinwand. Ein Junge, der dies sah, trat mit einem Eimer voll Bier näher und bot Orney eine Schöpfkelle davon an. »Gott segne dich, Bursche«, sagte Orney dankend. Mit ein paar eindrucksvollen Schlucken stürzte er eine halbe Pinte hinunter.
    »Es hat also in den frühen Morgenstunden begonnen?«, wagte sich Daniel vor.
    »Zwei Uhr, Bruder Daniel.«
    »Es hat also lange gebrannt, ehe irgendwer es bemerkt hat.«
    »O nein, Bruder Daniel, da irrt Ihr Euch gewaltig. Ich beschäftige einen Nachtwächter, denn diese Ufer wimmeln von Schlammlerchen.«
    »Manchmal schläft so jemand ein.«
    »Danke, dass Ihr mich davon unterrichtet, Bruder Daniel; wie stets seid Ihr darauf bedacht, auf schlechte Führung und Unfähigkeit hinzuweisen. Wisst also, dass mein Nachtwächter zwei Hunde hat. Beide haben kurz nach zwei Uhr zu bellen begonnen. Der Nachtwächter hat einen scharfen Geruch wahrgenommen und Rauch aus diesem Schiff aufsteigen sehen. Er hat Alarm geschlagen. Ich war eine Viertelstunde später hier. Das Feuer hatte sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausgebreitet.«
    »Argwöhnt Ihr Brandstiftung?«, fragte Daniel. Der Gedanke war ihm gerade erst gekommen; noch während er ihm Ausdruck verlieh, spürte er Schamesröte angesichts seiner eigenen Dummheit in sich aufsteigen. Orney und Kikin gaben sich höflich Mühe, ihre Ungläubigkeit zu verhehlen. Besonders Kikin ging bestimmt von Brandstiftung aus, selbst wenn es Anhaltspunkte gab, die dagegen sprachen; denn es handelte sich schließlich um Kriegsschiffe, und Russland befand sich

Weitere Kostenlose Bücher