Pringle vermisst eine Leiche
Mavis.
«Keine Angst, man hat mir erst
neulich gerade wieder vorsorglich eine Tetanusspritze gegeben.»
Mavis wurde es langweilig, sie
stand auf und streckte sich ein wenig. Dabei fiel ihr Blick auf die Kirche. Sie
stutzte.
«Sieh mal, das schmale Fenster
da», sagte sie zu Mr. Pringle. «Das sieht ja komisch aus — so dicht über dem
Boden.» Mr. Pringle begann ihr zu erklären, daß es sich um das sogenannte
Aussätzigenfenster handle, das den Kranken die Möglichkeit hatte geben sollen,
dem Gottesdienst zu folgen, ohne die Kirche zu betreten, was ihnen wegen ihrer
Krankheit verboten war. Der Boden um die Kirche herum sei früher um etliches
niedriger gewesen, so daß das Fenster damals in normaler Höhe angebracht
gewesen sei. Außerdem müsse man natürlich berücksichtigen... Er unterbrach sich
mitten im Satz.
«Großer Gott!»
«Was ist los?»
Sonnenlicht ließ die fast opaken
Scheiben hell hervortreten. Er spürte große innere Erregung. «Du hast mich da,
ohne es zu wollen, auf etwas gebracht... Hör zu, ich werd es dir erzählen: Vor
nicht ganz einer Woche beobachtete ich zufällig, wie jemand versuchte, dieses
Fenster dort von innen zu öffnen. Ich weiß nicht, wer die Person war, denn ich
konnte nur ihre Hand sehen. Allerdings trug sie einen Ring am Finger...»
«Also deshalb hast du dich bei
Joyce erkundigt, ob einer der Grünen Männer einen Ring trüge», unterbrach ihn
Mavis.
«Ja. Die Person, die ich
gesehen habe, könnte demnach Robert gewesen sein, denn, wie Joyce sagte, trägt
er einen Ring. Aber das ist im Moment noch nebensächlich. Mavis, was würdest du
schätzen, wieviel beträgt der Abstand vom Boden zum unteren Fensterrand?»
«Einen knappen halben Meter.»
Er nickte. «Das dürfte
hinkommen. Und jetzt nehmen wir einmal an, es wäre wirklich Robert gewesen, der
am vergangenen Dienstag das Fenster zu öffnen versucht hat, indem er
dagegendrückte — von unten nach oben. Dir ist selbst aufgefallen, wie niedrig
das Fenster ist, er müßte also, um diese Bewegung auszuführen, entweder gelegen
oder gekniet haben — beides etwas unbequeme Positionen, wenn man ein Fenster
öffnen will. Das wahrscheinlichere ist deshalb, daß er stand — aber eben nicht
auf dem Steinfußboden in der Kirche, sondern tiefer. Und jetzt komm!»
«Wo willst du hin?» fragte sie
leicht beunruhigt.
«Zum Pfarrer. Ich möchte mir
den Kirchenschlüssel ausleihen.» Aber niemand reagierte auf ihr Klopfen.
«Joyce hat doch gestern gesagt,
daß er am Montag immer frei hat. Vermutlich ist er nicht zu Hause», sagte
Mavis.
«Verdammt!»
«Das ist nun wirklich kein
Grund zu fluchen. Ich glaube übrigens, ich weiß, wo wir doch noch einen
Schlüssel herbekommen. Wenn du mir den Wagen gibst, fahre ich schnell hin. Du
kannst dich ja inzwischen weiter um das Grab deiner Oma kümmern.»
Zuerst hatte er
Schwierigkeiten, seine Gedanken auf die Reihe zu bekommen, doch die ruhige,
stetige Arbeit des Jätens half ihm, sich zu konzentrieren. Die verschiedenen
Teilchen des Puzzles begannen, ein Muster zu bilden. Als Mavis zurückkam, war
die Grabstelle von allem Unkraut befreit, und Mr. Pringle hatte eine Theorie,
die er jetzt möglichst schnell überprüfen wollte.
«Ruby hatte einen zweiten
Schlüssel, wie ich mir gedacht habe», sagte Mavis. «Sie hat uns gebeten, ihn
hinterher wieder bei ihr abzugeben.» Sie gingen zur Kirchentür. Mr. Pringle
schloß auf. «Was hast du eigentlich vor?» wollte Mavis wissen.
«Als erstes möchte ich mir mal
die beiden Fresken angucken, von denen es heißt, daß sie nicht mehr restauriert
werden könnten. Vor allem das mit den Buchstaben am unteren Rand. Das bedeutet,
daß ich die hölzernen Abdeckungen herunternehmen muß. Und als nächstes möchte
ich ein paar von den Steinplatten anheben, um zu sehen, was darunter ist. Ich
glaube, dazu brauche ich eine Brechstange.»
Mrs. Bignell sah ihn entsetzt
an. «Du kannst dich doch hier in der Kirche nicht aufführen wie ein Vandale!»
«Ich mache das nicht zu meinem
Vergnügen, Mavis, ich suche Beweise für bestimmte Vermutungen. Ich denke, daß
der Major ohne eigenes Zutun in eine Verschwörung verwickelt wurde, und
außerdem könnte sich möglicherweise herausstellen, daß die Geschichten über die
Fresken aus der Zeit Wuffas doch mehr sind als bloße Legenden.»
«Aber ich dachte, das wäre
längst klar», sagte Mavis verwirrt. Sie deutete auf die Holzblenden. «Stammen
die Gemälde dahinter denn nicht aus der Zeit Wuffas? Sag mal,
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