Prinz-Albrecht-Straße
heulte vor Schmerz.
Da begann der Endspurt der Flucht. In der nächsten Sekunde lagen sie im vollen Lichtstrahl.
»Los«, keuchte Stahmer.
Gleichzeitig sprang er auf. Georg folgte ihm. Sie liefen blind vorwärts. Nach links, um aus dem Lichtkegel zu kommen. Der Scheinwerfer folgte ihnen. Nach rechts. Das glühende Auge schwenkte träge.
Ein Ruf. Der erste Schuß. Warnung erst. Sie hetzten offen über ein Feld. Sie stolperten und fielen, rappelten sich hoch. Querschläger zischten ihnen um die Ohren. Von vorne kam ihnen der nächste Scheinwerfer entgegen. Ein kleines Wäldchen. Fünfzig Meter.
»Nein«, stöhnte Georg.
Stahmer riß ihn mit. Amoklauf um Sträucher, über Eispfützen, deckungslos. Wieder Pfiffe. Schüsse. Die Nacht wurde lebendig.
Sie hatten den Wald erreicht. Georg blieb stumpfsinnig liegen.
»Auf!« zischte ihn der Agent an. Der Komplize reagierte nicht. Stahmer schlug ihn mit der Handkante in den Nacken, zerrte ihn an den Haaren hoch. Hinter dem Wäldchen war wieder Nebel. Es kam auf jede Sekunde an. Er schob Georg vor sich her. Der Bursche wollte nicht. Der Agent trat ihm mit dem abgewinkelten Knie ins Gesäß. Die Wucht des Stoßes schleuderte den Mörder gegen einen Baumstamm. Sein Gesicht blutete. Seine Augen glotzten, starr vor Haß. Er bleckte die Zähne wie ein tollwütiges Tier. Stahmers Fuß traf ihn am Kinn. Die Zunge war zwischen die Zähne geklemmt.
»Schwein«, röchelte Georg. Dann spuckte er Blut.
Stahmer spürte wieder die Verwundung an der Hand. Egal, jetzt. Der Zorn gab ihm Kraft. Er prügelte den Kerl, den er nicht leiden konnte, vor sich her. Schritt um Schritt. Schlag um Schlag. Er trieb ihn wie ein stumpfsinniges Vieh. Wenn Georg stehen blieb, wuchtete Stahmers Knie oder seine Faust nach vorne. Der Mörder weinte. Da drosch Stahmer noch fester zu. Linker Fuß, rechter Fuß. Die Lunge stach. Die Beine knickten ab. Die gesunde Hand schmerzte wie die andere. Wenn sie stehenblieben, hörten sie die Verfolger hinter sich.
Stahmer hetzte weiter. Georg heulte wie ein Kind, hemmungslos, gebrochen, feige. Er wollte sich hinwerfen und warten. Aber er schleppte sich weiter. Aus der Furcht vor seinem Begleiter taumelte er in die Angst vor seinen Verfolgern.
Sie hatten dreihundert Meter geschafft. Der Nebel wurde dünner. Gleich ein halbes Dutzend Lichtarme trafen sich in einem Schnittpunkt, der ganz in der Nähe lag. Sie mußten hinaus. Ein letztes Mal stemmte sich Georg.
Stahmer trommelte auf ihn ein. »Du feige, erbärmliche Sau!« zischte er.
Georg zog den Nacken ein und raste aus dem Nebel hinaus. In den Scheinwerferstrahl hinein. Stahmer folgte ihm. Sie liefen um ihr Leben.
Plötzlich wuchsen vor ihnen Schatten aus der Nacht. Männer. Uniformen. Zehn, fünfzehn Meter Entfernung. Ein Pfiff. Ein Anruf. Sie mußten stehenbleiben. Gestellt. Umstellt.
Die unheimliche Jagd auf zwei Menschen war zu Ende …
29
Der Fall Formis wanderte in die Mülltonne. Die grellen Schlagzeilen verwelkten neben buntem Konfetti und verschmutzten Papierschlangen. Der Karneval pfiff auf die Politik, wie die Politik auf den Karneval. Ira durchtanzte die Nacht und vergaß die Angst …
Doch eines Vormittags klingelte es.
»Ich komme«, rief sie.
Der Briefträger, dachte sie, oder die Zugehfrau. Sie trocknete ohne Eile die Hände ab, warf dabei einen mechanischen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Sie war mit sich zufrieden, sie konnte es auch sein. Die Nacht war ihr nicht anzusehen. Ihr Gesicht war jung, hübsch, frisch. Sie ging durch den kleinen Korridor in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung und hängte die Sperrkette aus.
Plötzlich wich sie zurück wie vor einem Gespenst.
»Sie?« fragte sie betroffen.
»Ich«, erwiderte der Besucher.
Dann schob er sich einfach in die Wohnung, wie einer, der überall zu Hause ist. Er war groß und schlank, breitschultrig und schmalhüftig. Ein Kerl, dessen Erscheinung auswies, daß ihm die Natur zuviel Mut und zuwenig Herz mitgegeben hat.
Werner Stahmer ging an Ira vorbei, ohne sie zu beachten. »Paßt Ihnen wohl nicht, daß ich zurückgekommen bin?« fragte er fast beiläufig. Dabei lachte er trocken.
In Sekunden erlebte er noch einmal die Flucht, prügelte er den widerlichen Komplizen Georg über die Grenze, Gestalten entgegen, deren Konturen aus dem Nebel wuchsen, auf die Läufe von Maschinenpistolen zu, und hob die Hände. Und dann begriff er allmählich den glücklichen Zufall: Er war einer deutschen Grenzpatrouille, die ihn längst erwartete,
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