Prinz-Albrecht-Straße
über dem deutschen Volk. Aus jedem Empfänger bellte sie, aus jedem Haus, aus jedem Lokal, in ganz Deutschland, bis in seinen letzten Winkel …
»Mein einziges Ziel ist und bleibt die Erhaltung des Friedens.«
Wer es glaubte, war dumm, und wer es nicht wahrhaben konnte, verzweifelte. Aber Millionen setzten auf die Hoffnung, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Sie starrten auf die Bespannung der Lautsprecher, als könnten sie dahinter die Zuversicht, die Zukunft, die Erlösung von der Angst sehen. Nur die Frauen waren unpolitischer und deshalb klüger. Sie hamsterten, kauften Schokolade, Mehl, Zigaretten, etwas Seife.
Der schwere Lastwagen, der heute durch die Reichshauptstadt rollte, war so umständlich gesichert wie ein Goldtransport. Voraus ein Kübelwagen, an der Seite Motorräder, dahinter ein Überfallauto der Polizei. Dem Posten der SD-Schule in dem kleinen Städtchen Bernau, zwanzig Kilometer nördlich von Berlin, war die Ankunft schon gemeldet: er nickte und riß die Schranken hoch. Die schmutzige Plane flatterte wie eine häßliche Fahne. Der LKW stoppte. Eine Gruppe junger SS-Soldaten stand im Hof und sah beim Ausladen zu.
Uniformen, grün mit gelblicher Beifärbung, Hosen, Stiefel, Waffenröcke, polnische Rangabzeichen. Alles echt, auf der anderen Seite getragen. Die Abwehr des Admiral Canaris hat blendend gearbeitet und in mühsamer Kleinarbeit feindliche Klamotten gesammelt. Von Überläufern, von polnischen Grenztrupps, die auf deutscher Seite gefangen wurden. Die Uniformen reichten aus, um eine ganze Kompanie einzukleiden. Nichts wurde vergessen, sogar die Soldbücher lagen dabei.
Die SS-Soldaten verfolgten das Ausladen mit verbissenen Gesichtern.
»Die wollen uns zu Polacken machen«, sagte der eine.
»Den Plunder zieh' ich nicht an«, erwiderte ein Unterscharführer.
Andere Kameraden kamen aus den Unterkünften, murmelten, fluchten, stießen sich mit den Ellenbogen an, spuckten aus. Sie hatten sich zu dem Lehrgang in der SD-Schule freiwillig gemeldet. Hätten sie gewußt, um was es geht, würden sie davongelaufen sein, so schnell sie konnten, denn keiner hebt die Hand zum eigenen Tod.
Zuerst stellten die Angehörigen dieses Sondertrupps fest, daß sie alle aus Oberschlesien stammten, daß sie polnisch sprechen konnten. Sie mußten die Kommandos umlernen. Es hieß nicht mehr: »Stillgestanden!« sondern: »Stój cico!« Der Befehl lautete nicht mehr: »Im Gleichschritt marsch!« sondern jetzt hieß es: »Lez kokumasz!«
Sie gehörten ausnahmslos zur Waffen-SS und brannten auf den ersten Einsatz. Sie waren so jung wie dumm und konnten sich noch ein paar Wochen in dem Stolz sonnen, Hitlers politische Soldaten zu sein. Zuerst lachten sie über die seltsame Ausbildung.
Das Bild war grotesk: SS-Führer mit Totenkopf und Hakenkreuz-Binden brüllten sie in Zischlauten zusammen. Deutsche Rekruten wurden mitten in der Mark Brandenburg auf polnisch gedrillt und steckten bei dem Kommando »Polozic!« die verschwitzten Gesichter in den märkischen Sand.
»Was soll der Quatsch?« fragte ein Unterscharführer. Der Kompaniechef hörte es und brummte barsch: »Überlaßt das Denken den Pferden, die haben 'nen größeren Kopp.«
Um was es ging, wußte er selbst nicht genau. Er stand vor der Front seiner Leute und schrie mit markiger Stimme: »Ihr seid Soldaten des Führers … ein Soldat hat zu gehorchen und nicht zu fragen.«
Diesen Satz begriffen sie. Es war das Deutsch der Zeit. Viel mehr belastete sie, daß sie keinen Ausgang hatten und nicht schreiben durften.
Jetzt aber, da sie die polnischen Uniformen sahen, wuchs ihnen der Maskenball über den Kopf.
Auf einmal rannte und sauste alles im Hof durcheinander, die Unruhe pflanzte sich fort, ging in Panik über, weichte den Gehorsam auf.
»Das ist Meuterei«, brüllte der Kompaniechef.
Aber er konnte den Tumult nicht mehr überschreien. Er ging in die Schreibstube zurück und meldete ein Blitzgespräch nach Berlin an, Reichssicherheitshauptamt, Prinz-Albrecht-Straße.
Der Chef der Gestapo, Heinrich Müller, nahm es entgegen. Ein kleiner Mann in jeder Hinsicht. Kahlgeschorener Hinterkopf, Augen stumpf wie ein Wetzstein, Hände behaart wie Affenarme.
»Was?« brüllte der Mann in die Leitung, »Ihre Leute wollen nicht? … Mann, ich mach' sie fertig … ich … ich mach' sie zur Minna.«
Er mußte Luft holen. Das war etwas, was Gestapo-Müller nicht verstehen konnte. Meuterei in der Satanskaserne? Offener Aufstand in einer SS-Einheit? Wenn
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