Prinz-Albrecht-Straße
angreifen.«
Heydrich drehte sich um und tippte mit dem Finger nachlässig auf einen Fleck auf der Landkarte.
»… und dann überfallen wir den Reichssender Gleiwitz. Sie müssen unterscheiden, meine Herren, der erste Überfall ist mehr für die Wochenschau … der Anschlag auf den Sender hat so vor sich zu gehen, daß das halbe deutsche Volk ihn mitanhört. Schüsse im Senderaum, Hilfeschreie, es muß sehr eindrucksvoll sein … Denken Sie daran, Stahmer, Tote muß es geben, ganz gleich wie. Na, zu den Einzelheiten komme ich später …«
Stahmer straffte sich. Heydrichs Augen wirkten wie kleine Schießscharten, so steinern, so starr.
»Herrschaften, keine Sentimentalitäten. Je mehr bei der Knallerei umgelegt werden können, desto besser ist das für den Plan des Führers …«
Gestapo-Chef Müller räusperte sich, jetzt funktionierte sein Gehirn wieder. Schon dachte er praktisch und klar wie ein Rechenapparat. War der oberste Spürhund des Reiches erst mal auf der Fährte, dann wurde die Beute gewissenhaft gerissen.
»Wie sollen wir das geheimhalten?« fragte er unsicher.
Heydrich betrachtete den Gestapochef fast freundlich. »Müller«, erwiderte er sanft, »deshalb sind Sie ja mit von der Partie. In Oppeln geht das so: da stoßen Deutsche und maskierte Polacken aufeinander … wir brauchen Tote, wissen Sie … hübsch fotografiert … und dann haben Sie dafür zu sorgen, daß hinterher keiner quasseln kann.«
Müller nickte: Alles klar. Natürlich, Heydrich war ein Genie. Dann erschrak er. »Eigene SS-Leute soll ich umlegen?« fragte er betroffen. Aber dies war nur ein Augenblick. Im Grunde war es ihm gleichgültig, wen er liquidierte.
»Sie haben keine Phantasie«, erwiderte der Obergruppenführer geringschätzig. »Unsere Leute sind nur einer der beiden Trupps. Den verschicken wir hinterher an die Front, Spezialkommando … um die brauchen wir uns weiter keine Sorgen zu machen … auf dem Feld der Ehre.«
»Und die anderen?«
»Darüber sprechen wir beide später allein.«
Heydrich grinste diabolisch. »Na, Stahmer«, fragte er gönnerhaft, »kapieren Sie auch so schwerfällig?«
»Nein, Obergruppenführer«, erwiderte der Agent sofort. Ich bin ein feiges Schwein, dachte er, ich mache wieder mit.
»Ihre Sache ist die schwerste. Suchen Sie sich ein paar Leute aus. Aber nur zuverlässige … sonst müßte ich euch auch Erholungsurlaub an der Front verpassen.«
Heydrich verabschiedete die anderen und blieb mit dem Gestapo-Chef allein in seinem Dienstzimmer. Bevor Stahmer noch dazukam, sich gegen den Auftrag zu stemmen, drückte man ihm bereits die Pläne des Senders Gleiwitz in die Hand.
Es war der 5. August 1939. Der Agent dachte das Datum immer wieder stur vor sich hin. Er saß in seinem Wagen, schaltete mechanisch. Rollte blicklos durch die glutheiße Stadt. Er durchfuhr eine dunkle Seitenstraße und schüttelte den unsinnigen Wunsch ab, mit Vollgas gegen eine Häuserwand zu rasen.
54
Schrille Pfiffe gellten über den Appellplatz vor den Baracken. Die Häftlinge stürzten aus ihren Unterkünften. Kahle Köpfe, gestreifte Drilliche, ausgemergelte Gestalten. Sie taumelten, drängelten und traten nach vorne. Wer nicht selber trat, wurde von den Wachmannschaften getreten. Sie waren eingespielt im KZ Dachau. Die SS-Männer winkelten die Arme in die Hüften. Staubwolken wirbelten über Kies. Menschen formierten sich zu Karrees. Die Hunde in den Zwingern am Lagerrand sprangen wie wahnsinnig an den Drahtgittern hoch. Sie gingen bei den Menschen in die Schule der Menschenverachtung. Aber heute mußten sie in ihren Zwingern hecheln.
»Dicke Luft«, sagte Hans Mersmann zu dem Häftling neben sich, mit dem er seit zwei Jahren im gleichen Block lebte, wachte, hoffte, betete und verzweifelte. Mit dem zusammen er geschlagen, getreten, gehetzt wurde. Der zweite Moorsoldat hieß Herbert Rosenstein. Er sah Mersmann zum Verwechseln ähnlich. Der eine kam nach Dachau, weil der Partei seine Gesinnung, der andere, weil ihr seine Abstammung nicht gefallen hatte.
»Vorsicht«, raunte Rosenstein zurück. Sein Blick streifte gewohnheitsmäßig über die Prügelböcke am Lagereingang.
Die Häftlinge standen schweigend. Immer, wenn sie außer der Reihe antreten mußten, war etwas Fürchterliches im Gange. Eine Strafaktion. Weil einer eine Zigarette geraucht oder ein anderer aus den Mülltonnen der Bewacher ein Stück Brot geklaut hat. Die Delikte waren verschieden, das Strafmaß immer gleich.
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