Prinz-Albrecht-Straße
Termin hielt er für verfrüht. Das würde ihn nicht daran hindern, auf den Knopf zu drücken …
Gegen neunzehn Uhr nahm der Chef des RSHA den entscheidenden Anruf entgegen. »Na, Gott sei Dank«, sagte er.
Ein Wink genügte. Blitzgespräch mit Gestapo-Müller. Ein Wort: »Himmler-Plan«.
Der Lautsprecher auf dem Schreibtisch Heydrichs spuckte den üblichen Unsinn in die Welt. Friedensbereitschaft Hitlers. Letztes Gespräch mit Daladier. Chamberlain droht.
Heydrich grinste überlegen. »Na«, sagte er gutgelaunt, »Goebbels verzapft heute wieder einiges.«
Er stellte das Radio ab, stand auf, ging hin und her. Seine wasserhellen Augen waren von roten Rändern umgeben. Morgen würde auch er die Uniform wechseln. Satan wechselte die Farbe von Nachtschwarz in Feldgrau.
Eine Ordonnanz stürmte herein, baute sich auf.
»Gruppenführer Müller hat den Befehl bestätigt«, sagte der Mann zackig.
Heydrich sah auf die Uhr. Zwei Stunden noch. »Sorgen Sie dafür, daß wir den Sender Gleiwitz klar empfangen«, befahl er abschließend.
59
Die Parole, dachte Werner Stahmer, als er den Hörer abnahm. »Verstanden«, erwiderte er ruhig. Er nickte sich zu, wie ein Delinquent dem Henker. Es war soweit. Mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit schüttelte er alles der Reihe nach ab. Die Gedanken, das Gewissen, die Nerven.
Von jetzt ab regierte die Stoppuhr. Der Agent verständigte seine Komplizen im Schneeballsystem. Er rief einen Mann an, der den Alarm weitergab; der sechste klingelte bei Stahmer zurück. Der Auftakt des Komplotts dauerte acht Minuten. Ein Komplize blieb als Verbindungsmann zur Zentrale in Stahmers Zimmer zurück.
Der Agent ging auf die Straße. Zu Fuß, er hatte noch Zeit. Die Uhren waren verglichen. Die Aktentasche, die er trug, drückte nach unten, mit dem Gewicht einer Maschinenpistole und zweier Handgranaten. Das Mädchen Sybille hatte Nachtdienst. Werner Stahmer war fast einen Moment verbittert darüber, daß immer wieder alles klappte.
Einundzwanzig Uhr achtundvierzig. Der unheimliche Besucher stand vor dem Pförtner. Ein alter Mann, mit einer Brille über dem runden Kopf. »Wohin?« fragte er.
»Zu Fräulein Knapp.«
»Warum?«
»Privat«, entgegnete der Agent.
Mit zögernder Mißbilligung reichte ihm der Pförtner einen Zettel. Stahmer füllte ihn aus. Anruf nach oben. Der Weg war frei für das Attentat. Zunächst …
Der Mann mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften kannte sich aus, obwohl er zum erstenmal hier war. Er passierte das Gewirr der Gänge. Klopfte ganz leise an die Tür zu Nummer siebzehn.
Sybille Knapp zog ihre Lippen nach. Sie prüfte noch einmal das Rouge und lächelte dabei dem Eintretenden zu. Sie griff nach ihrer Handtasche. »Schon fertig«, sagte sie.
»Warum so eilig?« entgegnete der Agent.
»Das Büro ist wohl nicht das Richtige …«
»Für was?« fragte Stahmer, nur um Zeit zu gewinnen. Er sah sich um. »Hübsch«, sagte er.
Sybille lachte hellauf. »Möchte wissen, was hier hübsch ist«, sagte sie lachend.
Er trat an sie heran, legte seinen Arm auf ihre Schultern, drückte sie auf ihren Platz.
»Nicht hier«, erwiderte das Mädchen hastig. »Der Chef vom Dienst …«
»Rauchen wir noch eine Zigarette«, entgegnete Stahmer. Er sah auf die Uhr. Noch sechs Minuten. Verfluchter Zeiger, dachte er, mach schneller …
»Ich habe Ärger mit Horst gehabt«, sagte das Mädchen.
Stahmer nickte zerstreut.
»Wegen Ihnen«, ergänzte Sybille.
Der Agent schüttelte lustlos den Kopf.
»Sie sind heute nicht sehr aufmerksam«, schmollte das Mädchen.
»Entschuldigung«, entgegnete er wenig zerknirscht.
Noch vier Minuten. Was mach' ich dann bloß mit Sybille? überlegte Werner Stahmer. Sie niederschlagen? Oder einfach stehenlassen? Wenn sie in den Weg der Maschinenpistolen läuft! Ich hätte meine Komplizen vergattern sollen!
Er drückte die Zigarette aus.
»Was haben Sie denn heute?« fragte Sybille jetzt wirklich ärgerlich.
»Nichts«, erwiderte er. Dabei starrte er auf das Zifferblatt. In einhundertzwanzig Sekunden würde der Zweite Weltkrieg beginnen …
60
Plötzlich kamen Schritte über den Gang. Langsam, schlürfend, regelmäßig. Die müden Beine eines Mannes, der noch keinen Feierabend hat. Werner Stahmer straffte sich. Auch das noch, dachte er. In wenigen Minuten beginnt die Aktion Himmler, registrierte er. Die Stoppuhr ist der Regisseur, der das Verbrechen inszeniert: das Schauerdrama von Gleiwitz. Im Namen des Satans, der Heydrich heißt
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