Prinz-Albrecht-Straße
»Leider brauch' ich Sie im Moment.«
Stahmer stand wie aus Stein vor ihm.
»Mensch, Sie haben doch Verdienste.«
Der Mann, den die niedersten Instinkte nach oben geschwemmt hatten, zeigte auf einmal die Menschlichkeit eines Teufels: »Na ja, die Nerven«, fuhr er nachdenklich fort, »saufen Sie, schnappen Sie sich ein Frauenzimmer, tun Sie sonst was, wenn Sie's beruhigt. Mensch, so eine Ehre … dieser Auftrag! Und Sie, Sie machen schlapp! Und warum?« Sein Zeigefinger schoß wie ein Torpedo nach vorn.
»Gruppenführer«, setzte Stahmer an, »ich habe den ausdrücklichen Befehl, Tote zu machen … Dabei handelt es sich um harmlose Angestellte des Senders oder um deutsche Polizeibeamte … kein Mensch kann mir das befehlen.«
Gestapo-Müller betrachtete den Agenten beinahe melancholisch. »Kein Mensch?« fragte er ruhig. »Auch Heydrich nicht?«
»Auch Heydrich kann nicht verlangen«, erwiderte Stahmer blaß, aber hart, »deutsche Volksgenossen einfach zu ermorden.«
Eine Sekunde lang wirkte Müllers stupides Gesicht betroffen, erschrocken fast. »Und warum sagen Sie ihm das nicht selbst?« fragte er dann lauernd.
»Weil er nicht hier ist.«
»Na, vielleicht kommt er Ihnen zuliebe noch mit dem Sonderflugzeug«, versetzte der Gruppenführer gehässig. Er betrachtete seine Fingernägel.
»Weiß nicht, was in Sie gefahren ist«, fuhr er gefährlich leise fort. »Sie sind doch sonst kein Spielverderber … Ich muß hundert Leute und noch mehr umlegen. Nicht zum Vergnügen, Herr, für den Führer und Großdeutschland. Kapiert?« Jetzt schrie Gestapo-Müller los. »Und Sie machen mit Ihren zwei oder drei beschissenen Kerlen so ein Theater … Herr … Soll ich Ihnen Ihre stinkigen Leichen noch frei Haus liefern?«
Müller stürzte auf ihn los.
Stahmer rührte sich nicht. Sein Gesicht war schmal und verkniffen.
Auf einmal stellte der Mann, dem die Natur zuviel Mut und zuwenig Gefühl mitgegeben hatte, fest, daß er noch so etwas wie ein Gewissen hatte.
Der Gruppenführer blieb vor ihm stehen. »Leichen frei Haus?« sagte er. Auf einmal grinste er hämisch. »Mensch!« Aus Begeisterung über seinen Einfall schlug er Stahmer an die Brust. »Mensch, das ist eine Idee. Natürlich … Setzen Sie sich, Stahmer«, sagte er versöhnt.
Der Agent begriff ihn nicht. Trotz eines Schwindelgefühls in seinem Kopf konnte er klar denken.
»Sie sind in Ordnung, Stahmer«, fuhr Müller mit einem Wohlwollen fort, das Gänsehaut verursachte. »Sie haben völlig recht. Wozu Volksgenossen opfern, wo wir genug von diesen Schweinen haben.«
Stahmer begriff noch immer nicht. Vor einer Minute glaubte er, alles hinter sich zu haben, und nun endete der Auftritt vermutlich wieder mit einem faulen Kompromiß. Mit einem Aufschub, von dem er lebte, bis er krepierte. Eines Tages, in einem Monat oder in einem Jahr, vom Unrecht zu Recht umgelegt …
»Sie fahren zurück und warten auf das Stichwort. Um alles andere kümmern Sie sich nicht.«
»Jawohl, Gruppenführer«, erwiderte Stahmer.
58
Die Hitze machte den Tag endlos. Der Asphalt warf Blasen. Die Wasserwagen der Feuerwehr kapitulierten vor dem Staub. Die Reichshauptstadt lag schutzlos in der prallen Sonne. Erst am frühen Abend zogen träge Gewitterwolken auf. An den Ufern des Wannsees gerieten Zehntausende erholungssuchende Berliner in Platznot. Der Regen wollte nicht kommen.
In der Prinz-Albrecht-Straße waren die Fenster geschlossen. In den hohen Räumen war es kühler als anderswo. Über den farblosen Gardinen waren schon Verdunkelungsvorhänge angebracht. Die Posten vor dem Haus schwitzten unter dem Stahlhelm. Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes hatte seit Tagen sein Hauptquartier kaum verlassen. Wagen fuhren vor. Kuriere flitzten hin und her. Das Telefon klingelte pausenlos. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lief die Nervosität auf vollen Touren.
Hitler hatte sich die Entscheidung selbst vorbehalten. Am späten Nachmittag erhielt Heydrich den ersten Wink. Alarm beim Oberkommando der Wehrmacht in der Bendlerstraße. Hochspannung im Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße. Kommen und Gehen in der Reichskanzlei. Gerüchte schwirrten durch die Telefonleitungen. Befehle wurden widerrufen und neu erteilt. Soldaten kauerten in ihren Bereitstellungen. Adolf Hitler machte Geschichte.
Der Krieg war sicher, aber die Stunde seines Beginns ungewiß. Auch Heydrich kannte sie nicht genau. Er war der einzige, der Hitler widersprochen hatte. Den Krieg wollte auch er, aber den
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