Prinz Charming
Gefallen zu tun. Das ist verdammt anstrengend und ich weiß nicht, wie lange ich den Schein noch wahren kann.«
»So? Und was würdest du jetzt tun, wenn du dich nicht wie ein Gentleman benehmen müßtest?«
»Ich würde dich nackt ausziehen«, erwiderte er grinsend. Als sie so rot wurde wie das Kleid, fügte er hinzu: »Du willst doch, daß ich ehrlich bin?«
»Natürlich.« Er hatte sie völlig durcheinandergebracht, und sie konnte kaum noch klar denken. »Also gut, ich - ich trage das Kleid«, stammelte sie, »und einen Mantel drüber.« Einen schwarzen, der dieses Kleid von oben bis unten verdeckt, ergänzte sie stumm. Den werde ich nicht ablegen, und wenn’s in der Bank noch so heiß ist.
Sie riß ihm das Kleid aus der Hand und verschwand im Alkoven. »Aber es ist schrecklich tief ausgeschnitten. Mein Busen wird hervorquellen ...«
Da nahm er ihr das Kleid sofort wieder weg. Schließlich, schlüpfte sie in eine weiße Bluse und einen marineblauen Rock. Während sie ihr Haar mit einem bunten Band schmückte, ging er ungeduldig auf und ab.
Wie sich herausstellte, waren sie um fünf Minuten zu früh dran. Lucas betonte, sie wären sicher zu spät gekommen, hätte er nicht darauf bestanden, eine Droschke zu nehmen.
Mr. Harry Sherman begrüßte sie am Eingang der Bank und führte sie ins Büro des Direktors. Dort wurden sie von Mr. Peter Summers erwartet. Sherman, der ältere, war in London Lady Esthers guter Freund und Berater gewesen. Einen Monat nach dem Tod seiner Frau hatte er beschlossen, nach Amerika auszuwandern und in der Bostoner Zweigstel-le seiner englischen Bank zu arbeiten. Lady Stapleton half ihm, in seinem neuen Betätigungsfeld Fuß zu fassen, indem sie eine große Summe in die amerikanische Zweigniederlassung investierte. Sie waren Freunde geblieben und hatten sich alle zwei Wochen geschrieben. Mittlerweile war er fast sechzig Jahre alt.
Taylors Großmutter hatte stets behauptet, Sherman besitze den Geschäftssinn, den man im Bankwesen brauche, und Summers das nötige Charisma. Nun gab die Enkelin ihr recht, während Summers sie mit Komplimenten überschüttete. Er wirkte aalglatt und so aufrichtig wie ein schmeichlerischer Dandy.
Obwohl sie sich an keine frühere Begegnung erinnerte, behauptete er in entschiedenem Ton, er habe sie schon einmal gesehen. Damals sei sie noch klein gewesen und habe an den Röcken ihrer Großmutter gehangen. So sehr er sich auch bemühte, er konnte ihr kein Lächeln entlocken.
»An jenem Tag benahmen Sie sich etwas seltsam«, berichtete er. »Ihr Onkel Malcolm war da, und jedesmal, wenn er zur Bibliothekstür hinausging, ließen Sie Lady Esthers Röcke los, um die Schreibtischschubladen zu durchwühlen -wahrscheinlich auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Ihre Großmutter war sehr nachsichtig und hinderte Sie nicht daran. Aber sobald Ihr Onkel zurückkehrte, klammerten Sie sich wieder an die Röcke der guten Lady. Das wiederholte sich mehrmals, da Malcolm etwa alle zehn Minuten kam und ging. Ich glaube, er genehmigte sich draußen im Flur ein paar Gläser Whiskey.«
»Vermutlich«, stimmte Taylor zu. »Meine Großmutter duldete keinen Alkoholkonsum in ihrer Gegenwart.«
Der Banker erzählte noch andere Anekdoten, die er komisch fand. Alle hingen mit Taylors merkwürdigem Verhalten in Malcolms Nähe zusammen.
Über diese Erinnerungen konnte sie nicht lachen, und ihr Mann fragte sich, wann Summers endlich merken würde, daß er sie nicht amüsierte. Offenbar fürchtete sie sich immer noch vor ihrem Onkel, denn sie schlang ihre zitternden Hände fest ineinander. Gerade wollte Lucas sich einmischen, doch da wechselte der Banker das Thema und erkundigte sich, ob die Schiffsreise angenehm gewesen sei.
Nun beteiligte sich auch Sherman an der Konversation. Lucas stand hinter seiner Frau, während die beiden Gentlemen ihr den Hof machten. Sie erschienen ihm harmlos genug, aber es mißfiel ihm, wie der jüngere in Taylors Gesicht, starrte.
Harry Sherman wartete, bis sie von seinem Kollegen wieder in ein Gespräch verwickelt wurde, dann führte er Lucas in eine Ecke des Büros. Mit leiser Stimme fragte er, ob Taylor schon vom Tod ihrer Großmutter erfahren habe.
»Ihr Onkel Andrew schickte ihr ein Telegramm.«
Erleichtert atmete Sherman auf. »Es wäre mir schwergefallen, ihr die traurige Nachricht zu übermitteln. Auch ich werde Lady Esther sehr vermissen. Glauben Sie, Ihre Frau würde es verkraften, die Einzelheiten des Testaments durchzugehen? Lady
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