Prinzentod
hineinjagen. Instinktiv greife ich zu der Stelle, und als ich meine Hand zurückziehe, ist sie klebrig von Blut, meinem Blut! Er liegt am Boden, die Leine hat er losgelassen, ich schlage mit den Fäusten auf ihn ein, trete ihn in den Bauch und renne weg, renne um mein Leben. Ich drehe mich nicht um, reiße mir den Klebstreifen vom Mund, will den Knebel ausspucken, aber mein Mund ist so trocken, dass ich es nicht schaffe. Im Laufen versuche ich mi t den Händen das Sockenknäuel zu entfernen, renne . Alles an mir zittert, die Hundeleine, ich muss diese beschissene Leine noch abkriegen, ich will sie wegwerfen, nein, da s machst du besser nicht, vielleicht hört er dann, wo du bist . Ich stecke die Leine mit den Socken in meine Hosentasch e und bleibe mit rasendem Herzen stehen . Nichts. Da ist nichts, nur mein tobender Puls. Ruhig, Lissie ! Ruhiger atmen . Da, ein winziges Geräusch. Ist er das oder sind das Mäuse ? Ich atme ganz flach, um besser zu hören, aber jetzt ist es wieder still. Ich drücke mit der Hand auf meinen Oberschenkel , es blutet stark und der Schmerz wird mit jedem Augenblic k stärker. Aber ich zwinge mich weiterzulaufen . Was kann ich tun ? Ich muss die Polizei rufen, auf der Stelle, bevor er völlig ausflippt. Aber ich habe kein Handy dabei . Das Sekretariat wird abgeschlossen sein, genauso wie da s Lehrerzimmer . Die Aula! Dort ist ein Telefon . Wie komme ich von hier am schnellsten dorthin ? Ich versuche mich zu konzentrieren, denk, arbeite Scheißgehirn, wir sind seitlich hereingekommen, neben der Turnhalle , dann nach links gegangen, am Foyer vorbei, die Trepp e hoch, nein, ich bin ja wieder runtergerannt. Ich muss mic h also rechts halten . Ich ziehe meine Schuhe aus und gehe barfuß weiter, weil e s mir vorkommt, als würden meine Schritte in der ganze n Schule zu hören sein . Wo kann er sein? Hinter mir ? Ich lausche, aber da ist immer noch nichts. Egal, ich mus s zum Telefon .
Also weiter. Wie entsetzlich lang diese Gänge sind. Das ist mir noch nie aufgefallen. Dauernd drehe ich mich um, dann wieder bleibe ich stehen, weil ich denke, dass er dort um eine Kurve biegen und plötzlich vor mir stehen wird. An jeder Ecke halte ich inne, taste mich ganz vorsichtig voran, hoffe, bete, dass niemand dort ist, und renne dann erst weiter. Es pocht in meinem lädierten Bein und dazu habe ich noch so scharfes Seitenstechen, dass das Rennen zur Qual wird. Was, wenn er auf die Idee kommt, das Hauptlicht einzuschalten? Dann kann er leicht entdecken, wo ich bin, er braucht nur den Blutspuren zu folgen. Mein Bein schmerzt höllenmäßig, ich brauche dringend eine Pause. Aber ich muss zu diesem Telefon. Habe ich überhaupt Geld dabei? Hektisch durchsuche ich meine Jeanstasche in der Hoffnung auf ein Ein-Euro-Stück. Aber nein, nichts. Der Pausenkiosk fällt mir ein, der elfte Jahrgang muss den Verkauf organisieren, ich war vorletzen Monat dran, zusammen mit Bernadette. Die Einnahmen werden jeden Tag ins Sekretariat gebracht, aber in einer Schublade haben wir immer ein paar Münzen Wechselgeld. Wird das immer noch so gemacht? Ich habe keine Ahnung. Egal, das ist meine einzige Möglichkeit, um an Geld zu kommen. Aber das heißt, ich muss zurück durch die Gänge zum Kiosk und dann wieder in die Aula. Ob ich das schaffe? Was für eine Frage! Du kannst auch einfach stehen bleiben und verbluten oder dich von Nico umbringen lassen. Also los jetzt!
Ich ziehe mein Shirt aus und reiße mit den Zähnen einen Fetzen herunter, den ich um den Oberschenkel binde. Dann zerre ich das Shirt wieder über meinen Kopf und schleiche in Richtung Kiosk. Der wird zwar auch abgeschlossen sein, aber er hat eine Glasscheibe, die zum Verkauf hochgeschoben wird. Die kann ich einschlagen. Wenn man das Geräusch auch weithin hören wird. Egal. Los jetzt, mach, mach, mach! Plötzlich knackst es laut. Ich presse mich an die Wand, um Halt zu finden und nicht zusammenzusacken. Was ist das? Es knackst wieder, von überall her, dann ein schriller Misston, ein Pfeifen und dann: »Achtung, Achtung, liebe Schüler, das ist eine Durchsage für die kleine Lissie, die unbedingt zu ihrem König zurückkommen muss! Gottes auserwählten König zu beleidigen, muss bestraft werden.« Es ist nur die Sprechanlage, versuche ich mich zu beruhigen. Das bedeutet, er ist im Sekretariat im ersten Stock. Der Pausenkiosk liegt hier im Erdgeschoss, wenn ich mich beeile, kann ich es vielleicht schaffen. Der Schmerz im Bein ist jetzt so grauenhaft, als hätte
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