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Prinzentod

Prinzentod

Titel: Prinzentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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sind die anderen? Bernadette und Violetta? Die Frau wartet.
    Zögernd hebe ich den Daumen. »Ist wirklich alles okay mit dir?«, fragt die Frau. Ich suche verzweifelt nach einem Ausweg, aber mir fällt keiner ein. »Jetzt spann doch die arme Frau nicht so auf die Folter.« Nico schüttelt den Kopf. »Sie war es, die die Idee zu unserem Film gehabt hat. Sie wollte nicht nur zeigen, was passiert, wenn Menschen zu Opfern werden, sondern auch, wie Außenstehende sie sehen. Wir haben ein ganzes Halbjahr daran gearbeitet. Wussten Sie, dass Opfer an einem Punkt ankommen können, an dem ihre eigene Willenskraft mehr und mehr ausgelöscht wird? Das wiederum macht die Umwelt so aggressiv, dass ein furchtbarer Kreislauf entsteht. Und in dem Moment denken viele Unbeteiligte, das Opfer sei quasi selbst an seinem Desaster schuld.« Er sieht sie bewundernd an. »Wissen Sie, dass Sie erst die Zweite sind, die uns angesprochen hat? Alle anderen haben weggesehen.« Sie wirkt geschmeichelt. Fall nicht darauf rein, beschwöre ich sie im Stillen. Aber es ist bereits geschehen. Er hat sie am Haken. »Ich habe das vorhin wirklich ernst gemeint, dass wir Sie im Film haben wollen. Bitte erlauben Sie mir, das Material zu verwenden.« Er hebt die Kamera ein Stück weit. »Wo wird denn das gesendet?« »Das machen wir nur für unsere Schule und einen Schülerwettbewerb.« »Gut, dann soll’s mir recht sein.« Die Frau beugt sich zu mir. »Ich hoffe, du erholst dich schnell wieder von dieser schrecklichen Rolle! Aber Respekt – das ist wirklich eine großartige Idee. Du hast schon recht mit deiner Sichtweise über Opfer.« Die Frau schwingt sich auf ihr Rad und fährt davon. Mit ihr meine letzte Hoffnung.
    Nico ist unglaublich! Ein Genie, wenn es darum geht, die Ängste der Leute so zu verwandeln, dass sie ihm glauben. Aber was sollte das mit Brigitte? »Du benimmst dich jetzt besser«, faucht er. »Sonst muss ich unangenehm werden, verstanden?« Wir stehen mittlerweile schon fast an unserer Schule, nur noch eine große Straße ist zu überqueren und dann sind wir da. Dunkel und verschlossen liegt der hässliche Siebzigerjahre-Kasten vor uns. Mein ganzer Körper bebt vor unterdrückter Spannung, ich warte unentwegt darauf, dass er einen Fehler macht. Aber den Gefallen tut er mir nicht. Er zerrt mich nicht die Treppen hoch zum Haupteingang, nein, das hätte ich mir denken können: Wir gehen zu einem der Seiteneingänge neben der Sporthalle. Ich wusste nicht mal, dass man von dort in die Schule kommt. Er stellt die Kamera ab und sucht in seiner Hosentasche. Mich wundert mittlerweile gar nichts mehr, klar hat er einen Schlüssel, bestimmt zu allen Zimmern in der Schule, woher auch immer. Er hält die Leine unter leichtem Zug, jetzt ist er gewarnt. Er steht neben mir. Ich könnte mich drehen und ihn dann treten. Mitten rein, Papa hat gesagt, wenn dir einer was will, ist das immer das Beste. Meine Beine sind frei und den Revolver hält er nicht in der Hand, da kann sich kein Schuss lösen. Mist! Ich habe zu lange gewartet. Er bückt sich, nimmt die Kamera und zerrt mich über die Schwelle in die staubige Atmosphäre unserer Schule, um gleich darauf die Tür wieder hinter sich zuzuschließen. Selbst wenn ich mich befreien könnte, wäre mir doch der Ausgang versperrt.
    Hier drinnen ist es fast dunkel, die Gänge müssen selbst bei hellem Sonnenschein immer mit elektrischem Licht beleuchtet werden. Nico schleicht sich mit mir durch die Gänge, wie ein Kater durch sein Revier. Die Kamera stellt er im Foyer ab und zerrt mich weiter. Er wirkt jetzt nervöser als zuvor, er murmelt etwas vor sich hin, ich verstehe nur einzelne Worte wie »König, heimkommen, das Ende, der Anfang«. Wenn ich selbst nicht dabei gewesen wäre, ich hätte nicht geglaubt, dass er vor fünf Minuten noch völlig überzeugend ein Filmprojekt unserer Schule vorgetäuscht hat. Ich muss jetzt etwas tun. Muss, muss, muss. Selbst wenn Brigitte hier irgendwo sein sollte, dann bin ich ihr so keine Hilfe. Wo will er hin? Er zwingt mich, jetzt wieder mit dem Revolver in der Hand, weiterzugehen. Wir nehmen die Flurtür, die zur Treppe führt. Treppe? Das ist meine Chance, ich bleibe abrupt stehen, bücke mich in der Hoffnung, dass er über mich stolpert, und tatsächlich: Er strauchelt für einen Moment! Ein Schuss löst sich, klingt ohrenbetäubend laut und gleichzeitig schneidet ein entsetzlicher Schmerz durch meinen rechten Oberschenkel, als würde jemand einen Fleischerhaken

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