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Prinzentod

Prinzentod

Titel: Prinzentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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den Mund. Aus seiner Hosentasche holt er ein Klebeband, reißt mit den Zähnen ein Stück ab und klebt es über meinen Mund. Wie konnte ich ihn derart unterschätzen? Ich bin so blöd! Jetzt wird mir richtig schlecht, wie damals beim Kieferorthopäden, als ich dieses Ding mit der Paste für den Gipsabdruck ewig im Mund behalten musste, es würgt mich, würgt und würgt. Er schubst mich vor sich her durch die Wohnung. Bevor wir in den Hausflur gehen, zieht er in aller Ruhe eine dünne braune Hundeleine aus seiner anderen Hosentasche. Was will er denn mit diesem abgewetzten Dackelhalsband? Er grinst mich an. »Nur damit du mir nicht wieder wegläufst.« Er legt mir doch wirklich dieses Ding um den Hals. Mir. Eine Hundeleine! Und ich kann nicht mal jaulen, wegen dem Ding im Mund. Er zieht die Leine stramm, jetzt würgt es mich nicht nur innen in der Kehle, sondern auch noch außen am Hals. Nein, das ist kein Nervenzusammenbruch, er ist einfach ein Psychopath, ein Monster. Kais letzte Worte fallen mir ein: »Hasst dich!«
    Verdammt! Bernadette? Wo ist Bernadette? Immer noch in der Schule? Es ist doch bestimmt schon sieben. Und Violetta? Irgendjemand? Irgendjemand muss doch hier sein! Ich gehe, so langsam ich kann, auch wenn er mir den Lauf immer wieder zwischen die Schulterblätter drückt. Dabei pfeift er vor sich hin, als wären wir Hund und Herrchen beim Spaziergang. Das gibt es doch nicht. Wo sind sie denn alle? Ein entsetzlicher Gedanke schießt mir durch den Kopf. Hat er Violetta auch etwas angetan? Rastet er völlig aus? Im zweiten Stock macht er halt und zerrt mich in Brigittes Wohnung. Das lange Gewehr stellt er in den Waffenschrank und nimmt sich dafür einen Revolver, den er in einen bereitgestellten Rucksack packt. Einen zweiten steckt er in seinen Hosenbund. Er hält dabei die abgegriffene Leine fest in der Hand, einmal dreht er sich zu mir und winkt mit einer Schachtel, es klappert metallisch. »Patronen!«, erklärt er. Danach nimmt er den Rucksack auf die Schulter, doch als wir gerade an der Tür sind, fällt ihm offenbar noch etwas ein. »Komm!« Er zerrt mich in sein Zimmer, das ich noch nie von innen gesehen habe. Es ist ganz schwarz gestrichen und sieht aus wie ein Labor aus der Zukunft. Kameras, Kabel, Monitore, alte ausgeschlachtete Festplatten, Tonbänder, Batterien, Akkus und jede Menge andere technische Gegenstände, von denen ich nicht einmal weiß, wozu sie nutzen sollen. Meine Hundeleine wirkt hier wie ein Relikt aus dem letzten Jahrtausend. Er nickt belustigt, als würde er meine Gedanken lesen. »Mein Vater hatte früher Jagdhunde. Dackel, klein und oft unter schätzt. Ich hab die Leine im Keller gefunden, zwischen seinen Sachen. Mama hat alles von ihm aufgehoben. Der Waffenschrank war ihr immer heilig. Ich Idiot habe gedacht, sie würde eben das Andenken meines Vaters hochhalten, aber diese, diese, diese...« Seine Stimme bricht, er stampft mit dem Fuß auf, wie um sich selbst Mut zu machen. ». . . lächerliche Person ist zum Glück nicht meine Mutter.« Er schubst mich in eine Ecke, sodass ich mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben muss und nicht mitbekomme, was er noch aus seinem Zimmer mitnimmt. Dann verlassen wir die Wohnung und ich muss vor ihm her die letzten Treppen nach unten gehen, dann zerrt er mich aus der Haustür. Es hat aufgehört zu regnen. Draußen riecht es nach feuchtem Sommerasphalt. Ich atme erleichtert auf. Wir sind hier mitten in München, auf der Straße sind jede Menge Menschen, es kann sich nur um ein paar Minuten handeln, bis dieser Albtraum ein Ende hat. Oder vielleicht auch nicht. Denn Nico hebt in diesem Moment eine Kamera auf die Schulter. Seinen Revolver versteckt er im losen Ärmel seiner viel zu großen Regenjacke. Während er die Kamera auf mich gerichtet hält, stößt er mich vor sich her. Man liest immer darüber in der Zeitung, aber ich hätte nie für möglich gehalten, dass es tatsächlich so ist. Die Leute sehen uns, nein, sie sehen uns nicht nur, sie glotzen sich sogar die Augen aus dem Kopf. Aber sie tun nichts. Sie sehen einfach zu, wie ein Mädchen mit verklebtem Mund an einer Hundeleine über die Theresienwiese geführt wird. Niemand hält uns an, keiner mischt sich ein. Nico grinst allen fröhlich zu und ruft immer wieder: »Wir drehen einen Film für die Schule. Es geht um Gewalt gegen Frauen. Alles okay. Wir sind vom Petrarca-Gymnasium. Letztes Jahr haben wir einen Preis gekriegt für den besten Film. Das Thema war Ausländerhass. Ja, der

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