Prinzessin oder Erbse
nicht erzählt.«
»Tut mir leid. Ich wollte mit dir darüber sprechen, wenn ich fertig bin. Aber ich lese ziemlich langsam und bin erst auf Seite vierhundert.«
»Oh, da kommt ja das Beste noch«, sagt mein Vater erfreut. »Und wie gefällt es Ihnen?« David denkt eine Sekunde lang nach, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt.
»Ich finde es überraschend.« Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. »Man würde nicht denken, dass eine junge, hübsche Frau wie Fanny über ein so düsteres Thema schreibt. Aber je näher ich ihre Tochter kennenlerne, desto mehr begreife ich, dass sie sich genau für die Facetten des Lebens interessiert, an denen andere gerne vorbei schauen. Mich hat der Roman sehr berührt. Ihre Tochter ist eine begabte Schriftstellerin«, sagt er schließlich, und ich weiß, dass mein Vater ihn in diesem Moment in sein Herz geschlossen hat. Und wenn das überhaupt möglich ist, liebe auch ich David jetzt noch mehr als vorher.
»Nicht wahr, nicht wahr?«
»Und es ist ein Jammer, dass sie mit dem Schreiben aufgehört hat«, fährt David fort. Mein Vater strahlt über das ganze Gesicht, während Davids Blick meinen sucht. Durchdringend sieht er mich an, als wollte er sagen: »Das sage ich jetzt nicht nur für deine Eltern. Das ist
meine Meinung.« Verlegen verstecke ich mich hinter meiner Kaffeetasse.
»Ich finde es auch total schade«, wirft Julia ein, als meine Mutter einen kleinen Schrei ausstößt.
»Da fällt mir ein, Karl-Heinz, du solltest mich doch dran erinnern, wir haben doch noch etwas mitgebracht.« Verheißungsvoll strahlt sie mich an. Was kommt denn jetzt? Schon wieder wühlt meine Mutter in ihrem Ungetüm von Tasche herum und zieht schließlich ein mit Kinderschrift beschriebenes Blatt Papier in einer Klarsichthülle hervor.
»Was ist das?«, frage ich alarmiert, während meine Mutter das Papier wie eine Trophäe hin- und herschwenkt.
»Das ist deine erste Kurzgeschichte. Ich habe sie letztens beim Aufräumen im Keller gefunden. Als du sie geschrieben hast, warst du neun Jahre alt. Ich werde sie euch vorlesen. Wollt ihr?«, fragt sie in die Runde und trifft auf begeisterte Zustimmung. Außer von mir, aber meine Meinung scheint hier wenig zu zählen.
»Mama, bitte nicht«, bettele ich, denn wer weiß, was ich da für einen Unsinn verzapft habe.
»Doch, wir wollen das hören!«
»Bitte!«
»Es ist eine ganz tolle Geschichte«, sagt mein Vater leise in meine Richtung und tätschelt beruhigend meinen Arm.
»Na schön. Dann lies sie vor.« Meine Mutter nimmt noch einen großen Schluck Kaffee, räuspert sich geziert und beginnt zu lesen.
Die Geschichte von dem kleinen Mädchen Annabelle
Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die lebten gemeinsam in einem kleinen Haus und waren sehr glücklich miteinander. Weil sie sich so liebten, bekamen sie eines Tages ein Kind, eine kleine Tochter mit roten Haaren und grünen Augen. Sie freuten sich sehr und fanden, dies sei wohl das schönste Mädchen, das je das Licht der Welt erblickt hätte. Sie tauften sie Annabelle und es war alles gut. Aber eines Tages war es für das Kind an der Zeit, in die Welt hinaus zu gehen, um für das Leben etwas zu lernen. So kam Annabelle in die Schule, wo sie lesen und schreiben lernen durfte. Das gefiel ihr. Aber da waren auch noch andere Kinder. Sie hatten braune, blonde oder schwarze Haare und das leuchtend rote Haar von Annabelle stach ihnen wohl in die Augen. Sie riefen ihr böse Wörter hinterher und zogen an ihren flammenden Locken, nahmen ihr den Schulranzen weg und versteckten ihn, so dass sie ohne ihre Bücher nach Hause gehen musste. Eines Abends saß Annabelle in dem schönen Garten ihrer Eltern und weinte bittere Tränen, weil sie anders war als die anderen Kinder. Da hörte sie eine leise Stimme ihren Namen rufen und dann entdeckte sie ein winziges Männlein, kaum größer als ihr Daumen, in einem grünen Anzug und mit leuchtend roten Haaren unter der Zipfelmütze. »Oje, du Armer«, sprach sie voller Mitleid.
»Du bist genauso hässlich wie ich. Lachen sie dich auch aus? Musst du auch immer weinen?« Und das Männlein nickte, doch es sah dabei gar nicht traurig
aus, sondern lächelte fröhlich und flüsterte: »Es ist eine Gabe.« Dann schnippte es mit den Fingern und verschwand. Und vor ihr im grünen Gras begann es zu funkeln und zu leuchten und als sie genauer hinsah, da waren Hunderte Diamanten zwischen den Grashalmen, genau dort, wo ihre Tränen hingefallen waren.
»Wow«,
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