Prinzessin wider Willen
unfertigen Teile sehen..."
Er hatte sie bereits darüber informiert, dass es im Palast über hundert Zimmer, neun Kilometer Gänge und zwei Morgen Garten gab. "Ich wähle die Große Galerie", erwiderte Jana und fragte sich, wie lange das dauern würde.
Die Große Galerie raubte ihr den Atem, zuerst durch ihre Länge, die fast der eines Fußballfeldes entsprach, dann durch den Ausblick der Fenster entlang der Nordseite, die auf einen erschreckend tiefen Abgrund blickten.
Jenseits der wilden Schlucht erhoben sich die zerklüfteten Gipfel der Karpaten, an deren Hängen sich dichte Wälder hinzogen. In der Ferne glitzerte das Sonnenlicht auf einem Bergsee.
"Unglaublich", hauchte sie.
Nicolas wartete, bis sie sich der Wand mit den Porträts hinter ihnen zuwandte. Sobald sie es tat, holte Jana scharf Atem und schwieg.
Eine scheinbar endlose Prozession von Gemälden in
vergoldeten Rahmen zog sich die lange Wand hin. Jana blickte in die blauen Augen von Fürst Alexandru Laskowski und seiner Gemahlin, Fürstin Lueija. Erkennen und eine sofortige Beziehung trafe n sie wie ein Schock. Unwillkürlich wich sie zurück. Der Fürst und seine Fürstin betrachteten sie streng. Sie trugen schwere Kronen und steife Gewänder.
"Fürst Alexandru war Ihr Urgroßvater", bemerkte Nicolas, während Jana zu dem Gemälde hochblickte. Er ließ ihr Zeit, bevor er zu dem nächsten Porträt trat. "Das war Ihr Ururgroßvater, Fürst Vladimir."
Langsam ging Jana von einem Porträt zum anderen und betrachtete entfernte Tanten, Onkels und Cousins, deren Kleidung immer altmodischer wurde. Die Cyzniks sahe n sie mit Nicolas' schwarzen Augen an, die Laskowskis mit beunruhigend vertrauten blauen Augen. Alle ihre Vorfahren blickten geradeaus und hielten ihre gekrönten Häupter würdevoll hoch.
Alle hatten in Boglandia gelebt und waren hier gestorben, hatten hier gelacht und geliebt, gewütet und geweint. Sie hatten gelitten und triumphiert, hatten geheiratet, Kriege durchgestanden und sich gegenseitig bekämpft, hatten Kinder zur Welt gebracht und Kinder begraben. Sie hatten gesehen, wie Boglandia in den Stürmen der Politik schwankte und sich beugte, und sie hatten das Staatsschiff für künftige Cyzniks und Laskowskis bewahrt.
Keiner von ihnen hatte aufgegeben.
Jana kehrte zu dem Porträt ihrer Großmutter L. als Kind zurück. Nachdem sie das Gemälde lange betrachtet hatte, wandte sie den vielen starrenden Augen den Rücken zu und blickte stirnrunzelnd in die Schlucht hinunter.
"Ich komme mir vor, als wäre ich überfallen worden." Es kostete sie Mühe, das Beben aus ihrer Stimme zu verbannen.
"Sie gehen nicht gerade subtil vor, Nicolas."
"Ich hielt es für wichtig, dass Sie Ihre Vorfahren kennen lernen."
"Die alle ihre Pflicht als gute Fürsten und Fürstinnen erfüllten. Vermutlich haben sie nie gejammert, sich nie beklagt, nie Witze erzählt und nie Jeans getragen. Sie kletterten nie an einem Seil hinunter und liefen nie mitten in der Nacht weg, richtig? Sie waren in jeder Hinsicht perfekt. Sie verdienten die Kronen auf ihren Häuptern."
"So ungefähr", stimmte er zu, trat neben sie an das Fenster und berührte ihre Schulter. "Aber sie waren nicht perfekt. Ihre und meine Vorfahren waren normale Menschen, die sich in einer außergewöhnlichen Position mit Macht und Einfluss befanden. Sie wurden ihren Pflichten gerecht und führten sie so gut aus, wie sie konnten. Sie machten Fehler, von denen einige sogar katastrophal waren, aber sie verstanden die
Verpflichtungen, die mit der Krone verbunden waren."
Er drückte kurz ihren Arm, als Jana ihn unterbrechen wollte.
"Es ist anzunehmen, dass sich Fürstin Helena nach Freunden sehnte, denen sie vertrauen und sich anvertrauen konnte, genau wie Sie das tun." Er deutete mit einem Kopfnicken über seine Schulter auf ein anderes Porträt. "Fürstin Elzbieta kam aus einem polnischen Herzogtum, um den hiesigen Fürsten zu heiraten. Sie sah weder ihre Familie noch ihr Heimatland jemals wieder. Aber sie kam so gut zurecht, dass man sich wegen ihres fröhlichen Lachens an sie erinnert."
"Hören Sie auf, Nicolas! Sie haben sich klar ausgedrückt.
Gehen wir."
Die Augen ihrer Vorfahren folgten Jana, als sie zum Ausgang floh. Sie hatte die absurde Idee, dass sich die Porträts, sobald sie außer Sicht war, einander zuwenden und ihre Enttäuschung und Missbilligung über sie ausdrücken würden.
6. KAPITEL
Nicolas stützte seinen Arm auf das Lenkrad und betrachtete Jana. Sie wirkte noch immer
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