Prinzessinnensöckchen (German Edition)
meinetwegen und wegen dem Winnie. Aber da gibt’s nicht viel zu sehen. Die Polizei war schon da, hat dem Joey seinen Laptop mitgenommen und seine Korrespondenz, wie sie gesagt haben. Korrespondenz! Als ob die noch Briefe schreiben würden!«
Sie stiegen in den zweiten Stock, landeten auf einem Flur, der Carmen sofort deprimierte. Sah aus wie ein heruntergekommenes Hotel, schmucklos, es roch nach Jungs.
»Das ist hier nicht das Hilton«, erriet Großkreutz ihre Gedanken und blieb vor einer der sichtlich lädierten Sperrholztüren stehen, die einmal weiß lackiert gewesen waren. Was sich dahinter auftat, war kaum weniger trostlos. Höchstens acht Quadratmeter mit dem Notwendigsten, was einen von Obdachlosen unterschied: ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Nachttisch, ein Stuhl, ein Regalbrett an der Wand, auf dem Carmen keine Bücher vermutet hätte. Aber es standen welche drauf.
»Gelesen hat er immerhin«, sagte sie und betrachtete sich die fünf grellbunten Taschenbücher. Sämtlich Fantasyzeug. »Für Kultur ist bei denen an und für sich das Internet zuständig«, bemerkte Großkreutz. »Ich hab wenigstens durchgesetzt, dass sie keine Poster mit nackten Frauen an die Wände pinnen.«
»Hatte er hier einen Freund, mit dem er besonders vertraut war?« Großkreutz musste einige Zeit nachdenken. »Direkt vertraut weiß ich nicht. Mit dem Stefan Kammacher hat er sich ganz gut verstanden, ist auch direkter Nachbar, das linke Zimmer. Der arbeitet aber jetzt in einer Autowerkstatt.«
Carmen öffnete den Kleiderschrank und das Nachttischchen. Nichts Außergewöhnliches, schon gar keine Prinzessinnensöckchen. Entweder hatte die Polizei alles Interessante mitgenommen oder es gab einfach nichts Interessantes hier.
Unter dem Nachttischchen lugte die Ecke eines Prospekts hervor. Carmen zog ihn heraus. »Rolex? Wow, der hat ja einen exklusiven Uhrengeschmack.« Großkreutz machte »ei, jei, jei« und sagte: »Also wär mir schon aufgefallen, wenn er eine getragen hätte. Die Jungs hier können sich nicht mal ne chinesische Fälschung leisten.«
»Hm«. Carmen blätterte sich durch den Prospekt. Hielt inne, betrachtete sich eine Uhr genauer. 4.800 Euro, eines der billigeren Modelle. In die linken Ecke des Blatts war ein kleines rotes Kreuz gemalt worden.
*
Sechs öde Stunden lang hatte Emily Zeit, sich die Sache zu überlegen. Pest oder Cholera, na toll. Als Henges, der Mathelehrer, seine unsinnigen Gleichungen an die Tafel schrieb und sie dann auch noch ihre Hefte mit Formeln zukleistern mussten, traf sie ihre Entscheidung. Sie würde NICHT hingehen. Musste sie halt durch. Und Carmen belügen, das wollte sie keinesfalls. Die war ihre größere Schwester irgendwie, mit der man über alles reden konnte. Na ja, über fast alles. Dass sie heute Morgen so cool aufgetaucht war... und nachher, wenn es endlich schellte, würden sie essen gehen. Sushi. Hm. Hatte sie noch nie gegessen. War roher Fisch, aber Hanna hatte gesagt...
Bis es endlich schellte, spukte Hanna durch ihren Kopf. Die lebt noch, ganz bestimmt, die lebt noch. In der Klasse erzählten sie wieder mal lauter Scheiße von wegen die hätte Joey eins übergebraten, weil er ihr an die Wäsche wollte. Aber sie wusste es besser, sie musste sich auf die Zunge beißen, hielt sich abseits, auch als Robert kam und sagte, sie müssten jetzt mal wegen dem Scheißfilm reden. »Leck mich«, hatte sie ihm geantwortet. »Okay, danach. Erst reden.« Blöder Hund. Sehr witzig, ha, ha, ha!
Nein, die lebte noch. Die wurde gefangengehalten, aber warum? Was machte der mit Hanna? Sie stellte es sich lieber nicht vor. Endlich das Schellen, ihr Lieblingsgeräusch. Sie sprang auf, sie wollte als erste raus, Carmen wartete bestimmt schon vor der Schule. Sie slalomte an den anderen vorbei, entging dem ausgestreckten Arm Roberts. »Hey, Zicke! Du hast sie nicht alle, fette Tussi!« Hätte er jetzt nicht sagen sollen. Sie WAR fett, wusste sie selber. 1,64, 53 Kilo, acht mussten noch runter. Sushi macht nicht fett, sagte Hanna.
Sie blieb stehen, drehte sich um, sah Robert herausfordernd an. »Was ich am Arsch zuviel hab, hast du auf der anderen Seite zu wenig.« Wow, das war jetzt cool gewesen.
*
Mit Stäbchen zu essen macht Spaß. Vor allem, wenn man es nicht kann. Sie weigerten sich standhaft, das Sushi mit den Fingern vom Tablett zu angeln. »Lecker«, sagte Emily. Carmen nickte zerstreut. Warum suchte sich Joey eine Rolex aus? Eine bloße Tagträumerei? Die Fortsetzung der Flucht
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