Privatklinik
Ich bin jetzt fünfundfünfzig Jahre alt. Ist das alt? Ich meine, in der heutigen Zeit? Im Mittelalter wäre ich ein Greis gewesen, aber wir leben ja nicht mehr im Mittelalter. Ich bin rüstig, frisch, unternehmungsfroh, ich habe noch Saft in den Knochen und spüre das gewisse Kribbeln beim Anblick eines strammen Mädchens. Ich habe im Leben etwas erreicht. Meine Brauereien, meine Bankkonten, meine Kinder – ist das nichts? Aber jetzt kommt's! Meine Kinder haben mich bisher in vier Heilanstalten gesteckt, meine Frau hat den Antrag gestellt, mich entmündigen zu lassen, meine Brauereien darf ich nicht mehr betreten, über meine Konten verfügen fremde Anwälte. Ich habe fünfundfünfzig Jahre gelebt … aber was ist daraus geworden? Sagen Sie nicht: Dann lassen Sie das Saufen sein! Das wäre ungerecht. Wenn sich jemand zehn Geliebte hält, gilt er als Teufelskerl, auch wenn sie zehnmal mehr kosten als meine Sauferei. Seien Sie ehrlich, Doktor: Wenn man im Leben etwas erreicht hat, wie ich, oder wie Sie, oder wie die anderen Herren hier im Schloß, dann soll man ihnen die kleinen Freuden lassen. Dem einen eine Modelleisenbahn, dem anderen ein lebendes Püppchen, mir meine Schöppchen und kurzen Klaren.« Hoppnatz schüttelte den Kopf. »Die Welt ist verbohrt, Doktor! Es geschieht nur zu deinem Besten, haben sie mir bei der Einlieferung gesagt. Wer sagt, daß es mir zum Besten ist, wenn ich nicht mehr trinken darf? Die anderen! Du sollst ruhiger leben! Himmel noch mal – ich lebe am ruhigsten mit 'nem Affen! Du untergräbst deine Gesundheit! Welche dämliche Rede! Ich bin krank, wenn ich keinen Alkohol habe! Nehmen wir an, ich lebe noch zwanzig Jahre! Fünfundsiebzig Jahre – das ist kein Alter. Vierzig Jahre habe ich gearbeitet, um Millionen zu sammeln. Mit vierzehn Jahren habe ich Maische gerührt, mit Zwanzig war ich schon Braumeister! Ich habe aus meiner Familie, die abends einen Mainzer Käse aß und Milchkaffee trank, die in der Gesellschaft angesehenen Hoppnatz' gemacht. Steht mir nicht das Recht zu, den Rest meines Lebens so zu leben, wie ich will?«
»Sie jammern hier die uralte Philosophie der Trinker in die kalte Luft!« sagte Dr. Linden abweisend. »Es gibt eine moralische Ordnung!«
»Wo ist die denn? Nennen Sie mir einen Menschen, der immer nach dieser moralischen Ordnung gelebt hat! Nein, Doktor, das sind dumme Phrasen! Das echte Leben ist die Ausschweifung!« Hoppnatz sah starr in die schneenebeltrübe Weite der Landschaft. »Man will mich jetzt entmündigen, Doktor!« sagte er plötzlich ernst.
»Verwundert Sie das?«
»Meine Frau will es! Meine Frau, die ich wirklich geliebt habe. Vier Kinder habe ich mit ihr gezeugt. Wenn ich sie im Arm hielt, war es nicht eheliche Pflicht, sondern ich schwamm im Glück …«
»Bitte, keine Einzelheiten«, sagte Dr. Linden steif.
»Ich habe immer gedacht: Das ist ein herrliches Leben: eine Frau, vier Kinder, ein eigenes Heim, Geld und Ansehen – was kann Gott noch mehr schenken?«
»Schnaps!« warf Linden sarkastisch ein.
Hoppnatz schüttelte wild den Kopf. »Nein! Es ist alles ganz anders.«
»Wieso denn?«
»Meine Frau liebt Windhunde, mein ältester Sohn hält sich einen Park von drei Sportwagen, mein jüngster Sohn ist aus der Bahn geraten, der zweite Sohn hat nur Interesse für Briefmarken, und meine Tochter – eine Schönheit, müssen Sie wissen – hat bisher fünf Männer ruiniert. Jeder hat sein Hobby … meines ist der Alkohol! Ich verbiete ihnen nicht die Windhunde und Männer … warum kann man mir die Flasche verbieten? Ich sehe das nicht ein! Ist das Gerechtigkeit? Doch das nebenbei … also: Ich soll entmündigt werden.«
»Traurig, aber das Schicksal der meisten Trinker.«
»Ja!« Hoppnatz sprang auf. Plötzlich schrie er. »Gestern, mit der Post kam der Gerichtsbeschluß. Ich bin entmündigt! Nichts gehört mehr mir – keine Brauerei, kein Bankkonto, kein Haus … ich bin nackt! Völlig nackt! Ich bin von allem, was Leben heißt, ausgeschlossen worden! Was täten Sie an meiner Stelle?«
»Mich aufhängen!« antwortete Linden grob.
»Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen, Doktor.« Hoppnatz starrte den Arzt aus leeren Augen an. »Wie lange dauert solch ein Tod?«
»Wenn Sie sich fallen lassen, eine Sekunde, dann bricht der Nackenwirbel. Strangulieren ist langwieriger, bis zu fünfzehn Minuten …«
»Danke, Doktor.« Hoppnatz schlug den Mantelkragen hoch. »Ich lasse mich fallen. Ich bin kitzlig am Hals …«
Er verbeugte sich
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