Privatklinik
glücklich. Der Neubau ging dem Ende zu. Noch der Fußboden und die Tapeten, dann konnte man einziehen. Beim Tapezieren wollte Kaul ebenfalls helfen. Er hatte bisher immer selbst die Wände seiner Wohnung beklebt.
An einem Abend – er machte Überstunden im Neubau und Fritze hatte Nachtdienst in der LHA – erschien wieder Lucie Kellermann, Fritzes Frau, und sah Kaul zu, wie er die Tapetenbahnen mit dem Leimquast bestrich.
»Sie können das aber gut!« sagte Lucie herausfordernd. »Ich habe das gar nicht gewußt.« Und plötzlich ergriff sie Kaul an den Schultern, drehte ihn herum und preßte sich an ihn. »Küß mich!« sagte sie herrisch. »Sofort küßt du mich! Das gibt es ja gar nicht, daß mich ein Mann abweist! Jeden, den ich wollte, habe ich bekommen. Los, faß mich an.« Und als sich Peter Kaul steif machte und den Kopf zurückbog, lachte sie leise und gefährlich und flüsterte: »Ob du es tust oder nicht … ich werde Fritz sagen, du wolltest mich nehmen! Nur wenn du es wirklich tust, hast du alle Chancen, kein zerbrochenes Nasenbein zu bekommen! Du weißt, wie Fritz zuschlagen kann! Und mich liebt er! Also?« Sie bog sich zurück und legte die Hände um Kauls steifen Nacken. »Küßt du mich, du Heiliger? Ich bin verrückt danach. Du bist der erste Mann, der nicht sofort tut, was ich will! Aber ich habe davon gehört – gerade die sollen nachher die schlimmsten sein!«
Sie drängte Kaul gegen die Wand, ein üppiges, hellblondes Tier mit flackernden Augen und jagendem Atem. Als er sich freimachen wollte und dabei mit der Hand über ihre Brust fuhr, stöhnte sie auf, als schmerze es unerträglich. Sie warf sich gegen ihn und biß ihm in den Hals.
Peter Kaul senkte den Kopf, stieß ihn vor und schleuderte mit diesem Stoß Lucie gegen den Tapetentisch. Er kippte um, und Lucie fiel mit ihm und rollte sich in die beklebte Tapete ein. Sie schlug mit dem Kopf auf, es war ein dumpfer Schlag, und dann lag sie still, regungslos zwischen dem Kleistereimer und den Tapetenbahnen.
Streublümchen auf gelbem Grund. Mit Seidenstreifeneffekt.
Die Rolle zu vier Mark fünfzig.
Tapeten für die Diele. Fröhlich, ein Willkommensgruß gewissermaßen. Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.
Laßt Blumen sprechen …
»Lucie …«, stotterte Peter Kaul und blieb an der Wand stehen. »Lucie, stehen Sie doch auf! Ich habe nicht gewollt, daß Sie hinfallen. Bitte verzeihen Sie mir …«
Lucie Kellermann rührte sich nicht. Ein Streifen Blümchentapete klebte quer über ihrem Gesicht.
14
Kaul wagte nicht, sich von der Wand zu lösen, die zwei Schritte bis zu dem umgestürzten Tapetentisch zu gehen, sich niederzubeugen und nachzusehen, was mit Lucie geschehen war. Langgestreckt, wie eine umgefallene Schaufensterpuppe, lag sie zwischen den rosa Streublümchen, dem grünen Rankenwerk und den Silberstreifeneffekten, mit hochgeschobenem Rock, spitzenbesetztem schwarzem Schlüpfer und am linken Bein etwas verdrehtem nahtlosen Strumpf.
»Lucie …«, stotterte Kaul wieder. Er spürte, wie seine Handflächen klebrig wurden. Beim Sprechen zuckte sein Adamsapfel. »Machen Sie doch keine Dummheiten. Lucie … stehen Sie doch auf. Es war doch nur ein leichter Stoß. Ich bitte Sie um Verzeihung.«
Lucie Kellermann blieb stumm und unbeweglich.
Es blieb Kaul keine andere Wahl. Er mußte sich niederbeugen, er mußte die Tapete von Lucies Gesicht ziehen, er mußte sich um sie kümmern.
Als er die Tapete wegnahm, sah er, daß ein dünner Blutfaden aus Lucies Nase rann. Ihre Augen waren eingesunken, die sinnlichen Lippen blutleer, wächsern fast. Daß sie noch atmete, stellte Kaul nicht mehr fest. Er taumelte zurück an die Wand, kauerte sich wie ein getretener Hund nieder und war bereit, auch wie ein Hund zu heulen.
Ich habe sie getötet, dachte er. Es gibt gar keinen Zweifel … Blut läuft ihr aus der Nase. Sie hat einen Schädelbruch. Ob sie jetzt noch atmet oder nicht, was macht das aus? Ob sie stirbt oder weiterlebt, wen kümmert das, außer Judo-Fritze?
Durch seine Hand lag sie da zwischen Tapetenrollen und Kleister. Wer fragte da noch: Warum? Die Tat allein war sichtbar. Sie reichte aus, um unter Fäusten Fritzes erst verkrüppelt und dann erschlagen zu werden.
Peter Kaul blieb an der Wand hocken, unfähig, das nächste zu tun, was nötig gewesen wäre: einen Arzt zu holen. Wozu einen Arzt? dachte er sogar. Sie stirbt, ich werde sterben … damals, als ich glaubte, am Tod des Johann Milbach schuld zu sein, wurde ich das
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