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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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»Stellen Sie sich mir gegenüber, Diakon. Ich schneide gleich, und Sie werden abtupfen und dann die Gefäßklammern anbringen, wo ich es Ihnen zeige. Und noch einmal – nicht umfallen. Es stinkt für einen Laien bestialisch!«
    Diakon Weigel nickte. Brigitte stand am Kopf des Bauern und hielt die Lampe über den Körper.
    Mit energischem Griff nahm Dr. Linden das Skalpell, prüfte mit dem Daumen die Schärfe und ließ es dann sinken.
    Er empfand nichts. Die Daumenkuppe war gefühllos. Mit zusammengepreßten Lippen legte Linden das Skalpell zurück, spreizte alle zehn Finger und ließ sie mit den Kuppen über den Leib gleiten.
    Nichts. Gar nichts. Kein Gefühl. Kein Tastsinn. Es war unmöglich, zu schneiden, den Leib zu öffnen, die feinen Gefäße zu erfassen, den Appendix zu lösen, das Bauchfell zu säubern. Er spürte nichts in seinen Fingern, er tastete auf Watte. Die größte und wichtigste Gabe des Chirurgen, an der das Leben der Kranken hängt, fehlte ihm: das Fingerspitzengefühl.
    Das Todesurteil über den Heidebauern war gesprochen. Er konnte nicht operieren. Nicht so. Es gab nur eine Möglichkeit, das Gefühl in den Fingern wiederzuerlangen. Der Rückfall in das alte Leben. Der Griff zum Glas.
    Dr. Linden wandte sich ab und starrte aus dem Fenster in den trüben, eisigen Wintertag. Diakon Weigel sah Brigitte an, sie waren beide bleich wie die Laken unter ihnen.
    »Was … was haben Sie, Doktor?« fragte Weigel, als Linden begann, seine Gummischürze abzustreifen.
    »Ich kann nicht operieren …«
    »Und warum, Doktor?«
    »Ich … ich …« Dr. Linden atmete tief auf. »Tragen Sie den Bauern wieder ins Bett. Ich werde ihm mit einigen Injektionen das Sterben schmerzlos machen.«
    »Aber warum können Sie denn nicht operieren, Doktor?« rief Diakon Weigel. »Ich denke, wir haben alles da, was wir brauchen. Wir können doch den Bauern nicht …« Er schwieg, das Entsetzen lähmte ihn fast.
    »Ich bin nicht da, Diakon!« Dr. Linden drehte sich um. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Er war ein alter Mann geworden, in drei Minuten. »Ich habe kein Gefühl mehr in den Fingerspitzen. Seit Jahren nicht mehr! Seit einem Autounfall. Ich bekomme das Gefühl nur wieder, wenn ich – trinke …«
    Die Lähmung war vollkommen. Diakon Weigel stand wie versteinert neben dem Tisch und dem in der Narkose röchelnden Bauern. Die Bäuerin betete leise. »Jesus, hab' Erbarmen! Jesus, hab' Erbarmen! Jesus, hab' Erbarmen …« Immer und immer wieder. Brigitte hielt noch immer den Handscheinwerfer über die nackte, mit Jod eingepinselte Operationsstelle.
    »Versuchen Sie es, Doktor …«, stammelte Diakon Weigel.
    »Dann können Sie auch ein Kind dranstellen. Es macht genauso viele Fehler wie ich …«
    »Bitte, bitte, versuchen Sie es!«
    »Der Bauer wird sterben. Aber ich halte es für besser, er stirbt an der Keritonitis als durch mein Skalpell. Ich habe eine Abneigung gegen Mord.«
    Diakon Weigel lehnte sich gegen die Wand. Schweiß troff ihm über die Augen und das Gesicht. »Dann … dann trinken Sie, Doktor. In Gottes Namen und mit Gottes Willen trinken Sie! Es geht um ein Menschenleben! Trinken Sie … und operieren Sie …«
    Dr. Linden zögerte. Er starrte auf die Flasche mit dem reinen Alkohol. Diakon Weigel verfolgte den Blick, machte ein paar Schritte, nahm die Flasche, riß ein Glas aus dem Wandschrank und schüttete es zu einem Viertel voll.
    »Wie … wie soll ich verdünnen?« fragte er heiser.
    »Voll das Glas. Früher genügten schon vier Gläser Cognac. Aber das ist lange her.«
    Weigel rannte in die Küche, der Wasserhahn rauschte, dann kam er zurück, das volle Glas in den Händen und reichte es Linden hin wie einen Kelch.
    Linden sah seine Frau an. »Verzeih mir, Gitte«, sagte er und senkte den Kopf. »Aber ich kann nicht anders. Soll ein Mensch deswegen sterben? Wir sind in einem Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg gibt.«
    Er setzte das Glas an die Lippen und nahm den ersten Schluck. Und plötzlich empfand er, daß es ekelhaft schmeckte. Das war etwas ganz Neues. Er würgte den nächsten Schluck hinunter, er hatte das Gefühl, sich erbrechen zu müssen, er empfand das früher so herrliche Brennen des Alkohols in der Kehle und der Speiseröhre und später im Magen wie einen Krampf. Aber er trank das Glas leer, er zwang sich den Alkohol auf, er kämpfte gegen den Ekel und schluckte und schluckte. Als er das Glas absetzte, durchlief seinen Körper ein Schütteln.
    In dem düsteren Zimmer war

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