Privatklinik
Warum nicht? Sie haben ihren Vater besoffen gesehen, warum sollen sie nicht eingeweiht werden, wie man einen Menschen von der Gemeinschaft isoliert? Sie können daraus doch nur lernen …«
Pfarrer Merckel winkte und sah auf seine Uhr. »Zeit, um in die Schule zu gehen«, sagte er. »Paßt gut auf, Kinder.«
Heinz und Petra blieben in der Tür stehen und sahen auf den Vater. Peter Kaul zog die Nase kraus.
»Hört ihr nicht: Der Pfarrer wünscht euch alles Gute. Antwortet mit einem ›Vergelt's Gott!‹ und geht …«
»Ist Papi noch da, wenn wir zurückkommen?« fragte Heinz.
»Nein!« Pfarrer Merckel legte die Hände breit auf seine Knie. So sitzen Bierkutscher da, wenn sie satt sind und auf das Aufstoßen warten. »Aber ihr werdet Papi bald wiedersehen. Geht jetzt …«
Als sie allein waren, als Susanne gesehen hatte, wie die Kinder Hand in Hand über die Straße gingen zur Schule, vorbei an den Nachbarn, die etwas fragten, aber keine Antwort bekamen, als Gundula ihren bunten Klötzchen bekommen hatte und ruhig war, lehnte sich der Pfarrer zurück, daß die Sessellehne knackte.
»Warum sind Sie aus der Anstalt weg, Peter Kaul?« fragte er.
»Weil es dort zu schön war. Zuviel Schönheit macht mich sentimental. Und ich hasse das Sentimentale.«
»Peter …«, sagte Susanne leise und bebend.
»Dummheit war das!« Merckel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Man hätte Sie bald wieder freigelassen! Noch lag keine richterliche Einweisungsverfügung vor … aber jetzt ist sie ausgestellt! Ins Wasser gehen! In die Ruhr! So ein Blödsinn! Und dann ausreißen … noch größerer Blödsinn! Sind das Lösungen von Problemen? Helfen Sie damit Ihrer Familie? Wird es dadurch besser in der Welt? Sind Sie solch ein Schlappschwanz, der aus Jammer vor der eigenen Schwäche sich entleibt? Ich habe Sie immer für einen Kerl gehalten, Peter Kaul! Für einen zwar versoffenen, aber doch für einen im Grund anständigen Kerl! Wir wissen ja, warum das Saufen ist. Auch hier triumphiert die Dummheit! Sehen Sie denn nicht ein, daß es besser ist, in sich zu gehen, als sich zu häuten und selbst aufzufressen?« Und plötzlich griff er über den Tisch, faßte Kaul am Hemd und zog ihn zu sich heran. »Bist du ein Kerl?« brüllte er mit seiner gewaltigen Stimme. »Oder hast du dich zur Memme gesoffen?«
Peter Kaul befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff. Fahlbleich war er jetzt, mit zitternden Augäpfeln. Er starrte Susanne an und erkannte, daß in ihrem Blick die gleiche Frage stand, die große Hoffnung, er möge gehen, er möge nicht mehr aufsässig sein, er möge mittrotten wie ein Lamm zum Schlachthof, leise blökend und mit kullernden Augen. Die Gegenwart des Pfarrers hatte sie verändert. Vorher bereit, mit den Kindern zu sterben, aus der Verzweiflung heraus, das Leben sei verspielt, stemmte sie sich jetzt dagegen, hatte sie noch Hoffnung, spürte sie Kraft, jene Kraft, die es ihr jahrelang erlaubt hatte, an seiner Seite zu leben, zu lieben, zu gebären und ab und zu auch glücklich zu sein.
»Kommen Sie, Herr Pfarrer«, sagte Peter Kaul leise. »Kommen Sie schnell, ehe es mir wieder leid tut.« Er hob bedauernd die Hände. »Nur mit dem Schlafanzug kann ich nicht mehr dienen. Ich habe ihn zerrissen. Total zerrissen! Verbrennen wollte ich ihn … aber Sie und Ihre Begleiter waren schneller. Ich werde ihn ersetzen müssen. Was kostet solch ein Schlafanzug? War ein rauher Stoff, eine zarte Haut schabt er bestimmt auf, vor allem am Gesäß. Das Schönste war noch das Monogramm. LHA. Ludwig Heinrich Adam, kann das heißen. Oder: Lieber Herr Abraham. Oder: Liebe, Hoffnung, Aberglaube. Es läßt einen großen Spielraum für die Phantasie, Herr Pfarrer, dieses LHA. Ich werde es unbedingt ersetzten, dieses Monogramm. Den Schlafanzug drumherum kann ich vermissen. Wie gesagt – er kratzt am Hintern.«
Es gab keine weiteren Diskussionen mehr. Peter Kaul kleidete sich an, er nahm seinen Sonntagsanzug aus dem Schrank, den grauen Pfeffer und Salz, er ließ sich von Susanne einen Windsorknoten binden mit einem blaugrauen Schlips, er stieg in seine spitzen schwarzen Schuhe, Modell Gondola – Made in Italy –, er wusch sich noch einmal die Hände, polkte sich einen schwarzen Rand unter dem linken Mittelfinger weg, kämmte sich korrekt und machte den Eindruck eines wohlsituierten Bürgers, der sonntags zur Messe geht, zum Frühkonzert, in eine Ausstellung, im Park spazieren, zum Fußballklub oder in ein Bordell.
»Wir können!«
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