Privatklinik
faltete die Hände und nagte an der Unterlippe, während ihr Körper vor unterdrücktem Schluchzen zitterte.
»Bei Meyers gibt es jetzt Ananas für 1,45 die große Dose …«
»Wie schön«, stammelte Kaul und umklammerte das Gitter.
»Für das Fernsehgerät habe ich jetzt eine Stundung der Raten bekommen … weil du hier bist …«
»Siehst du, wie nützlich das ist?« sagte Kaul bitter.
Schweigen. Das Atmen zweier Brustkörbe. Seufzen. Im Haus bimmelte es. Station I – III fertigmachen zum Kaffeetrinken. Halb vier! Es gab eine Blechtasse mit Malzkaffee und eine Schnitte Brot mit Pflaumenmus. Sonntags ab und zu ein Stück Streuselkuchen. Das war besonders beliebt. Man aß nur den unteren Teig und verwahrte die Streusel. Um sie wurden Karten gespielt. Einsatz: Drei Krümel Streusel pro Spiel.
»Frau Wüllmann hat das sechste Kind bekommen«, sagte Susanne heiser. »Ein Mädchen.«
Peter Kaul nickte. Die Grausamkeit der Leere kam ihm immer mehr zum Bewußtsein, je länger Susanne im Raum war. Man hatte sich nichts zu sagen, man stand sich gegenüber, sah sich an, empfand, daß man zusammengehörte, aber da war ein Vakuum, das man nicht mehr auffüllen konnte, da gab es nichts, was man sich zu berichten hatte, da konnte man nur fragen: Wie geht es dir? Antwort: Gut. Vor einer Woche hatte ich einen Schnupfen. – Und die Kinder? Antwort: Auch gut. Petra hat im Diktat ein ›Gut‹ geschrieben, und Heinz soll im nächsten Sommer in ein Ferienlager nach Langeoog. – Langeoog? Wo liegt das noch mal? Irgendwo dort oben an der Nordsee. Eine Insel. Haben alle so komische Namen. Wangerooge, Spiekeroog. Erinnerungen an die Erdkunde, siebtes Schuljahr. Peter, nenn mir die Ostfriesischen Inseln, in der Reihenfolge angefangen von Borkum … Und da soll Heinz im Sommer hin? Muß also einen neuen Pullover haben. Kostet mindestens 30 Mark! Woher nehmen? Schwarzarbeit am Bau! Aber das geht ja nicht. Ich bin ja in der Landesheilanstalt. Ich bin ein Säufer! Ein halb Irrer! Also wird Heinz frieren … oder Susanne muß ihn selber stricken, den Pullover. Aus den aufgeribbelten Garnen von zwei alten Pullovern. Es wird schon gehen … Und dann wieder Schluß. Schweigen. Was soll man sich sagen: Alles ist so weit entfernt, wenn man hinter Gittern sitzt. Ein Gitter ist nicht bloß der Abschluß eines Zimmers – es trennt ganze Welten. Man wird dumpf hinter Gittern, stumpf und kalt. Langeoog! Was soll's? Kann ich einen Pullover aus den Rippen schneiden? Ich bin ein Säufer! Basta, Susanne!
Schweigen. Noch immer Schweigen. Die ganze grauenhafte Leere tut sich kund! Es stimmt, was Judo-Fritze sagt. Im Grund genommen liegt die ganze Unterhaltung des Lebens im Bett! Das ist ein Thema, unausschöpfbar wie die Kraft von Ebbe und Flut. Es stimmt nicht, was die Feingeistigen sagen: Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik! Falsch ist das! Es muß heißen: Wo das Wort zu Ende ist, beginnt der Körper! Das ist Realität! Seht mich an, den Säufer Peter Kaul, Privatstation Prof. Brosius von der Kirche Gnaden. Ich stehe meiner Frau gegenüber, nach vier Wochen LHA, Gefängnis und wieder LHA. In einem Schlafanzug mit einem Orden auf der Brust. Dem Medaillon der Gefangenen. Der Kennmarke der Hirnakrobaten. Und was haben wir uns zu sagen nach diesen vier Wochen! Nichts! Frau Wüllmann hat ihr sechstes Kind. Interessant. Sie soll sich ihren Namen ändern lassen in Frau Wühlmann! Ist das ein Witz, was? Man wird bescheiden in der Klapsmühle. Man freut sich über ein eingeschobenes h. Haha! So ist das, Susanne. Das ist dein Mann! Der Vater deiner Kinder! War es eigentlich immer so leer um uns? In uns? Bei uns? Es muß wohl so gewesen sein, denn die schönste Zeit unserer Ehe war auf der Matratze. Das ist doch ein Beweis! Und auch jetzt ist es so. Wir stehen uns gegenüber in einem Zimmer erster Klasse der Klapsmühle, sehen uns an, schweigen, schielen auf das aufgedeckte Bett, den einzigen Ort, an dem wir unsere Leere füllen können. Wo der Geist schweigt, ist die große Stunde der Kraft. In der Politik (schön, wie man alles einordnen kann!) wie in der Ehe. Sagt mir eine Ehe, in der es anders ist! Was bleibt von ihr, wenn man sich auch im Horizontalen langweilt?
Es klopfte an die Tür. Dreimal. Laut. Dann ein Warten. Und dann kam Judo-Fritze herein. Allein. Sein erster Blick fiel auf das Bett, dann wanderte er zu Peter Kaul und Susanne. Sie saßen noch immer getrennt, er am Fenster, sie am Tisch, zwischen sich drei Meter fünfzig Luftraum. Oder
Weitere Kostenlose Bücher