Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
ein Rest floß. Darauf sah er Rosa ratlos an. Sie lachte. Die dicke Frau sagte: »Ihr Herr Lehrer hat, scheint’s, ’n guten Zug.«
Ertzum begriff; ein Schwindeln ging sichtbar durch seine Augen. Er erfaßte plötzlich die leere Flasche am Hals wie eine Keule.
»Nanu«, machte Rosa. Und nach einem Augenblick, währenddessen sie ihn beurteilt hatte: »Mein Taschentuch liegt unterm Tisch. Holen Sie’s mal raus, ja?«
Ertzum bückte sich, steckte den Kopf unter den Tisch, wollte hingreifen. Aber seine Knie bogen sich; er kroch, und das Mädchen sah ihm zu, auf das Tuch los, nahm es mit den Zähnen vom Boden, kehrte auf den Händen unter den Tischrand zurück. Da blieb er und hielt die Augen geschlossen, erschlafft von dem fettigen, fad parfümierten Geschmack des grauweißen Fetzens, worin Schminke abgewischt war. So stand nun, gleich vor seinen geschlossenen Lidern und unerreichbar, das Weib, von dem er Tag und Nacht träumte, an das er glaubte, für das er sein Leben gelassen hätte! Und weil sie arm war und er sie noch nicht zu sich emporziehen durfte, mußte sie ihre Reinheit Gefahren aussetzen und mit schmutzigen Leuten verkehren, sogar mit Unrat. Es war ein furchtbares, einziges Geschick.
Nachdem sie ihr Werk bewundert hatte, nahm sie ihm das Tuch aus dem Gebiß und sagte: »So is scheen, mein Hundchen.«
»Fabelhaft«, bemerkte Lohmann.
Und Kieselack, der einen weit abgenagten Fingernagel an den Mund führte, mit einem Senkblick von einem seiner Kameraden zum andern: »Bild’t euch man nix ein. Ihr erreicht ja doch nicht rechtzeitig das Ziel der Klasse.«
Dann blinzelte er Rosa Fröhlich zu. Er selbst hatte es schon erreicht.
Lohmann sagte: »Zehneinhalb. Ertzum, dein Pastor kommt vom Bier, du mußt in die Klappe.«
Kieselack hatte Rosa etwas zugeraunt, schäkerhaft und drohend. Wie die beiden andern aufbrachen, war er verschwunden.
Die Freunde gingen dem Stadttor zu.
»Ich kann dich hinausbegleiten«, erklärte Lohmann. »Meine Alten sind auf dem Ball bei Konsul Breetpoot. Wie findest du das, daß unsereiner nicht eingeladen wird? Da tanzen nun schon die Gänse, mit denen ich Tanzstunde gehabt habe.«
Ertzum schüttelte stürmisch den Kopf.
»Solch ein Weib ist doch nicht dabei! Letzte Sommerferien war ich auf unserm Familientag mit allen Ertzumschen Mädschen und soundso vielen angeheirateten Püggelkrooks, Ahlefeldts, Katzenellenbogens …«
»Und so weiter.«
»Aber meinst du, das eine
das
gehabt hätte?«
»Was denn?«
»Na das. Du weißt schon. Sie hat auch, was ein Weib ganz besonders haben muß, nämlich sozusagen Seele.«
Ertzum sagte »sozusagen«, weil das Wort Seele ihm Scham machte.
»Und dann ihr Taschentuch«, ergänzte Lohmann. »So eins hat keine Püggelkrook.«
Ertzum begriff langsam die Anspielung. Er trachtete die dumpfen Instinkte, die ihm vorhin einen so sonderbaren Auftritt bereitet hatten, mühselig ans Licht zu ziehen.
»Du mußt nicht denken«, sagte er, »daß ich so was ohne Absicht tue. Ich will ihr gradezu zeigen, daß sie trotz ihrer niedrigen Abkunft über mir steht, und daß ich sie ernstlich zu mir emporziehen will.«
»Sie steht ja über dir.«
Ertzum wunderte sich selbst über diesen Widerspruch. Er stotterte: »Du sollst sehen, was ich tun werde! … Der Hund, der Unrat, kommt mir kein zweites Mal lebendig in ihre Garderobe.«
»Ich fürchte, er möchte es uns grade so verleiden, wie wir ihm.«
»Er soll es nur wagen.«
»Ein feiger Kerl ist er ja nur.«
Sie waren dennoch in Sorge; aber sie sprachen nicht mehr davon.
Sie gingen zwischen den leeren Wiesen hin, auf denen im Sommer das Volksfest spielte. Ertzum, von weiter Nacht und Sternen leichtergemacht, fand in seinem Sinn glänzende Auswege in die Freiheit, heraus aus diesem Bürgernest und aus der staubigen Anstalt, wo sein großer ländlicher Körper in lächerlichen Fesseln saß. Denn er war dessen jetzt, seit er liebte, gewahr geworden: daß er sich lächerlich ausnahm auf der Schulbank, an einer falschen Antwort stotternd, den Stiernacken geduckt, hilflos, weil der hochschulterige Schwächling auf dem Katheder ihn giftig anschielte und dazu pfauchte. Alle seine Muskeln, von denen man hier Zahmheit verlangte, sehnten sich danach, belastet zu werden, drängten ihn, mit einem Schwert und einem Dreschflegel um sich zu hauen, ein Weib über seinen Kopf zu schwingen, einen Bullen am Horn zu packen. Seine Sinne gierten nach riechbaren Bauernmeinungen, nach greifbaren Begriffen, auf festem
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