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Projekt Atlantis

Titel: Projekt Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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blieb stehen. »Guten Morgen... Sir?«
    »Gabriel.«
    Walters fragte sich, wie der Mann hierhergekommen war. Zu Fuß? Im Anzug? Hatte er ihn bewusst abgepasst? »Wohnen Sie auf Andros?«
    »Nur zeitweilig. Ich war lange Jahre unterwegs, aber es zieht mich immer wieder hierher, ans Meer. Es erinnert mich an meine Jugend. Und daran, dass alles im Fluss ist.« Gabriel blickte hinaus aufs Wasser. Dann deutete er unbestimmt auf den Horizont. »Wenn Sie ganz genau hinsehen, werden Sie bemerken, dass Sie von hier aus sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft schauen können. Das Meer ist in ständiger Veränderung, niemals identisch und doch immer gleich. Es war bereits vor unserer Zeit hier und wird lange nach uns noch hier sein. Sie sehen es so, wie es schon zu Urzeiten ausgesehen hat und wie Ihre Urenkel es einmal sehen werden. Es kümmert sich nicht um uns und unsere kleinen Belange.«
    Walters sah ebenfalls auf den Ozean, folgte dem Gedanken. Mit wenigen Worten hatte der Mann erneut etwas in ihm angerührt, als sei er in besonderer Weise erfahren im Umgang mit Worten. Walters sträubte sich, einem fremden Menschen auf diese Weise Gehör zu schenken, aber er konnte nicht umhin, zuzugeben, dass er Gabriel gegenüber trotz aller Skepsis zugleich eine eigentümliche Vertrautheit empfand. Es stimmte, der Ozean in seiner Weite und urtümlichen Kraft strahlte etwas Erhabenes aus.
    »Im Grunde ein etwas deprimierender Gedanke«, hörte Walters sich sagen. »Man fühlt sich unbedeutend.«
    »Ja. Zunächst ja. Aber wenn Sie es näher betrachten, kann es Sie größer machen.«
    Walters dachte darüber nach, versuchte zu verstehen, was der Mann meinte, bemühte sich um einen anderen Blickwinkel. Doch es gelang ihm nicht. Das Meer, so viel größer als alles Land zusammen, so unergründlich wie der Mond, so unbeugsam, unbezähmbar und Jahrmillionen alt. Da stand er als kleiner Mensch an irgendeiner Küste, und seine Bedeutung war nicht größer als die eines Sandkorns.
    »Sie werden sich der Bedeutungslosigkeit Ihrer selbst bewusst«, fuhr Gabriel fort, als Walters auch nach einer längeren Weile nichts sagte. »Das geht jedem so. Und es ist ein wichtiger Schritt. Denn in diesem Moment fällt alles von uns ab, was uns in der materiellen Welt verankert, um dessen Erhalt wir stetig kämpfen, dessen Verlust wir fürchten und betrauern. Wenn man erkennt, dass man selbst vor der Unendlichkeit keine Bedeutung hat, verliert auch alles andere seine Bedeutung. Die Kraft, die Sie aus diesem Gedanken ziehen können, ist die Kraft der Freiheit. Dinge an sich sind bedeutungslos. Es sind wir selbst, die ihnen Bedeutung geben. Wir entscheiden darüber, ob sie uns betrüben oder erfreuen, aber es sind keine Eigenschaften, die den Dingen innewohnen.« Der Hüne sprach langsam, mit kaum erhobener, aber deutlicher Stimme. »Wenn Sie einmal den Schritt gemacht haben und verstehen, dass jede Bedeutung eine Illusion ist, dann haben Sie den Schlüssel gefunden, um die Welt in sich neu zu schaffen, neu zu gestalten. Sie erleben Ursachen und Folgen, Leben und Tod, Freude und Leid als miteinander verbundene Teile eines Ganzen, Sie verstehen die Welt als Abbild der Wünsche aller Menschen, zum Teil verstärken sie sich, zum Teil sind sie unvereinbar, aber sie sind in einer steten Bewegung. Wie das Meer, das Sie nun nicht mehr mitreißt und herumwirbelt, sondern das Sie trägt, das Sie bewusst befahren und dessen ganze Schönheit Sie nun überschauen können.«
    Der Weißbärtige beendete seine Ansprache, und Walters kam es so vor, als habe etwas seinen Geist durchgerüttelt. Die Rede des Mannes folgte einer Logik, der er nur knapp folgen konnte. Indem er einen Satz überdachte, schloss sich schon der nächste tiefgründige Gedanke an. Was waren das für merkwürdige Weisheiten, die der Alte da von sich gab? Wie weit war ihnen zu trauen, wo lagen ihre Fehlschlüsse, ihre Fallen?
    Unvermittelt lachte Gabriel auf. »Ich weiß, das waren viele Worte auf einmal. Verzeihen Sie, wenn ich bisweilen ins Schwärmen gerate. Mir kommt es vor, als hätte ich ein ähnliches Gespräch erst gestern geführt... Aber Sie wissen vielleicht, wie es ist, man kommt herum, man macht sich Gedanken, man liest, man lernt, man wird älter, und eines Tages hört man, wie längst gestorbene Philosophen aus dem eigenen Mund sprechen.«
    »Ehrlich gesagt«, meinte Walters, »habe ich diese Erfahrung bisher noch nicht gemacht.«
    Gabriel lud Walters mit einer Geste ein, mit ihm

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