Projekt Babylon
meisten Menschen ertrugen die Vorstellung nicht, dass nach dem Tode alles vorbei sein könnte, dass es keinen anderen Sinn im Leben geben könnte, als den, den sie selbst ihm gaben. Diese Menschen brauchten einen Halt. Das war annehmbar. Die wenigsten erfolgreichen religiösen Menschen begriffen jedoch, dass ihnen durch ihren Glauben keineswegs eine göttliche Macht zur Seite stand, sondern lediglich ein Selbstvertrauen. Die Macht, alles zu erreichen, war rein menschlich.
Nach diesen Grundsätzen hatte er gelebt und jede Chance erkannt und genutzt.
Natürlich hatte es Rückschläge gegeben, aber er hatte sie zu schätzen gelernt, denn sie waren seine besten Lehrmeister gewesen. Auf diese Weise hatte er rückblickend jede Situation zu seinen Gunsten zu wenden gewusst und niemals das Vertrauen in seine Ziele verloren.
Alles, was ein Mensch erreichen konnte, keimte zu Beginn aus dem sozialen Umfeld und den besonderen Fähigkeiten des Einzelnen. Dies waren gewissermaßen die Startbedingungen, während die Träume und Wünsche das Ziel bildeten. Diese beiden Pole sowie die Ereignisse auf dem Weg vom Ursprung in die Zukunft formten zusammen ein Geflecht aus Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten. Michaut hatte stets alle Möglichkeiten maximal ausgenutzt und sich auf diese Weise von einer Unwahrscheinlichkeit zur nächsten gehangelt, ja, sogar völlig neue, unabsehbare Möglichkeiten erschlossen. So gesehen hatte er als Präsident von Frankreich bereits die absolute Spitze seiner persönlichen Unwahrscheinlichkeiten erreicht und war seinem Ziel so nah, wie er es überhaupt nur sein konnte.
Und dann tauchte Jean-Baptiste Laroche auf. Und er beschwor etwas herauf, das größer war als Michaut, größer als ganz Frankreich.
Das Erbe des königlichen Blutes.
Es hatte einen vertrauten, bedrohlichen Klang, und Michaut hatte seinen Geheimdienst darauf angesetzt. Was dieser aus den tiefsten Archiven der französischen Regierung zusammengetragen hatte, war ungeheuerlich. Laroche konnte sich tatsächlich auf eine Weise zum Herrscher, zum neuen Messias emporschwingen, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Seine Gedanken kreisten weniger um die religiösen Verflechtungen; auf diese Vorstellung mochte er sich nicht einlassen, konnte es einfach nicht. Aber ihn beschäftigte die Ausweglosigkeit dieser Bedrohung. Wie konnte er gegen Laroche vorgehen, ohne ihn zum Märtyrer zu machen?
Michaut überlegte, ob er sich wieder einmal an den Grafen wenden sollte. Die Grenzen der Freundschaft oder vielmehr des Vertrauens – denn es war irgendwie zugleich weniger und mehr als Freundschaft –, diese Grenzen mussten eines Tages erreicht sein. Er wusste nicht, wie weit er den Grafen tatsächlich einbeziehen durfte oder sollte... und hier ging es immerhin um Dinge, deren Tragweite nicht jedermann einfach so hinnehmen konnte. Wie würde der Graf auf eine solche Offenbarung reagieren? War er ein religiöser Mensch? Eine Frage, die sich Michaut noch nie gestellt hatte, doch nun gewann sie plötzlich unerwartete Relevanz. Würde der Graf diese Dinge belächeln? Entsetzt sein? Verzückt? Würde er überhaupt zuhören wollen? Objektiv bleiben können? Andererseits: Wenn überhaupt jemand in der Lage war, in dieser Frage neutral zu bleiben, dann war er es...
Er hob den Hörer ab und ließ sich eine sichere Leitung geben. Dann wählte er die Nummer.
10. Mai, Herrenhaus bei Morges, Schweiz
Am frühen Nachmittag setzte der Hubschrauber zur Landung an. Er senkte sich auf die Rasenfläche auf der Rückseite eines Herrenhauses am Genfer See. Das Grundstück fiel hier ein wenig ab und führte bis an das Ufer des Sees, wo der Rasen in eine mit schweren, schwarzen Felsbrocken befestigte Böschung überging. Auf der Terrasse warteten bereits zwei Männer, von denen der jüngere auf den Hubschrauber zuging, nachdem dieser aufgesetzt hatte und die Rotoren zum Stillstand gekommen waren. Er begrüßte den Mann, der gerade aus der Tür stieg.
»Willkommen, Monsieur le Président! Mein Name ist Joseph. Steffen erwartet Sie bereits.«
Präsident Michaut folgte dem jungen Mann. Er hatte ihn schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht genau erinnern, wo. Dass er den Grafen »Steffen« nannte, irritierte ihn ein wenig. Es schien ihm doch allzu respektlos. Es konnte allerdings auch bedeuten, dass dieser Joseph ein besonders enger Vertrauter des Grafen war; eine ähnlich einflussreiche Person auf die eine oder andere Weise. Steffen... Ein ungewöhnlicher Name.
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