Projekt Babylon
Vielleicht Deutsch oder Niederländisch. Ihm wurde bewusst, wie wenig er über den Grafen wusste. Er war irgendwie plötzlich da gewesen: Wenige Tage nach seiner Amtsübernahme hatte sein Staatssekretär ihm den Mann vorgestellt, und sie waren sich von Anfang an merkwürdig vertraut gewesen. Seinen tatsächlichen Namen hatte entweder niemand jemals genannt, oder Michaut hatte ihn vergessen. Aus irgendeinem Grund erinnerte er sich an einen Adelstitel, daher nannte er ihn Graf, und dieser schien dem nicht zu widersprechen.
Der Mann war stets über alles informiert, und zugleich wusste er zu schweigen. Er schwieg über ihre Gespräche, aber auch über seine Herkunft. Er wurde niemals privat und war doch immer persönlich. Ein feiner, aber bedeutender Unterschied. Es war schwer zu sagen, ob der Graf ein direktes Interesse an Michaut selbst hatte oder nur an dessen Stellung als Präsident. Vielleicht hatte der Graf auch gar kein Interesse, sondern beobachtete bloß. Es schien fast so zu sein, denn er war zwar immer für den Präsidenten zu sprechen, bereit, ihm zuzuhören oder Ratschläge zu geben, aber er mischte sich niemals aus eigener Initiative ein. Und wenn doch, dann war es so geschickt, dass es nicht zu bemerken war. Michaut nahm sich vor, die Hintergründe des Mannes erforschen zu lassen.
Nachdem er Joseph gefolgt war, betrat Michaut die Villa durch eine Terrassentür und stand unmittelbar in einem großzügigen Salon. Er war mit wenigen, aber erlesenen antiken Möbeln bestückt. Ein massiver dunkler Holztisch, der einem Rittersaal entsprungen zu sein schien, stand direkt hinter der Glasfront, die auf die Terrasse und den See hinausblickte. Neben dieser Tafel stand der Graf, in edlem dunklem Anzug, wie ihn Michaut nicht anders kannte; von beeindruckender Ausstrahlung, ein wenig altertümlich, aber ohne dass man es mit den Details seiner Kleidung hätte belegen können.
»Monsieur le Président, es ist mir eine Ehre, Sie als meinen Gast begrüßen zu dürfen.«
Präsident Michaut nickte nur; er wusste nicht, wie er antworten sollte. Er war hierher gekommen, an den unwahrscheinlichsten Ort, suchte Hilfe in der unwahrscheinlichsten Situation. Konnte der Graf ihm überhaupt helfen? Würde er überhaupt zuhören?
»Es scheint Sie eine schwere Last zu bedrücken«, sagte der Graf. »Joseph wird uns Wein bringen. Wir werden uns hier an diesen Tisch setzen. Wussten Sie, dass bereits Leonardo da Vinci an diesem Tisch saß? Natürlich nicht hier«, er fuhr mit der Hand über die Oberfläche, »ich habe den Tisch in Turin erstanden. Bitte – nehmen Sie Platz. Von hier aus haben Sie einen wunderbaren Blick über den Lac Léman.« Er machte eine Pause, während Michaut sich setzte. Er spürte die Unruhe des Präsidenten, dessen Unbehagen. »Was auch immer Sie bedrückt, schieben Sie es für einen Augenblick beiseite und beobachten Sie nur die feinen Wellen und den leichten Dunstschleier, der sich zum Abend hin verdichten wird. Ist er nicht ein wunderbarer, friedlicher See? So ist er bereits seit Tausenden von Jahren, und nichts, was wir tun, wird diesen See wesentlich ändern. Und dort hinten, was Sie gerade noch als helle Spitzen erkennen können, das ist der Montblanc. Wenn Sie genau hinsehen, merken Sie, dass Sie sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft blicken. Alles hier ruht in sich selbst, die Geschicke der Menschen ziehen vorbei. Auf ähnliche Weise, wie die Berge und der See keine Partei ergreifen, weder gut noch schlecht sind, so ist die Welt um uns herum weder gut noch schlecht. Es ist unsere Auffassung der Geschehnisse, die sie uns als gut oder schlecht erscheinen lassen. Noch die schlimmsten Erlebnisse können uns etwas lehren. Wachstum entsteht überall dort, wo sich Dinge ändern und wir darauf reagieren müssen. Wenn wir Geschehnisse in unsere Vorstellungen von gut und schlecht sortieren, und uns nur nach dem ausrichten, was wir für gut halten, wenn wir vor dem Schlechten die Augen verschließen, vor dem Schlechten flüchten, es nicht annehmen, dann entgeht uns die Hälfte der Dinge, aus denen wir große Weisheit schöpfen könnten.«
Michaut sah auf den Genfer See hinaus und war dabei den Gedanken des Grafen gefolgt. Einige der Dinge hatten einen wärmenden Klang, schienen auf einer anderen Ebene als der des Verstandes einen tieferen Sinn zu haben. Aber andererseits gab es auch Geschehnisse von solcher Tragweite, solch offensichtlicher Schlechtigkeit, dass er dem Grafen nicht vollkommen
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