Projekt Babylon
Priorat deswegen untätig war. Glauben Sie wirklich, dass nach Hunderten, Tausenden von Jahren Krieg in Europa die sich anbahnende europäische Einheit selbstverständlich ist? Ein europäischer Präsident – gestern noch undenkbar, und heute? Welches übergroße, zentrale Interesse ist hier aktiv, dass sich Engländer, Franzosen, Deutsche, Polen, Russen und Türken nicht noch heute säbelrasselnd gegenüberstehen?«
»Sie wollen mir weismachen, dass es nicht die Politiker sind, die die Geschicke in Europa lenken, sondern das Priorat?«
Plantard winkte ab. »Verstehen Sie mich nicht falsch, es sind sehr wohl die Politiker, die die Geschicke leiten. Politiker wie Sie, Monsieur Michaut. Sie handeln nach Ihren Zielen. Doch haben Sie sich jemals gefragt, wie Sie zu Ihrer Überzeugung gekommen sind? Welche Gedanken anderer Menschen vor Ihnen haben Sie beeindruckt? Wer vor Ihnen verfolgte bereits ähnliche Ziele wie Sie? Wessen gedankliche Arbeit setzen Sie fort? Wessen Bücher lesen Sie, wessen Kommentare beeindrucken Sie, auf wessen Rat hören Sie? Wir alle, Monsieur Michaut, Sie und ich, sind nur zu einem kleinen Teil Individualisten, denn das meiste ist bereits erdacht, gesagt, geschrieben und erfunden. Unsere Ideen, Ansichten und Überzeugungen bedienen sich aus dem überquellenden Fundus der Weltgeschichte; Tausende von Jahren, Milliarden von Menschen, so schlau und in der Summe unendlich viel schlauer als wir – wirklich neue Ideen sind sehr selten. Wir unterscheiden uns nur darin, welche dieser Ideen wir aufgreifen, wessen Überzeugungen wir annehmen, welche Talente wir haben und wie wir Letztere einsetzen, um Erstere zu verfolgen.«
Michaut schwieg. Der Alte hatte einen allzu tiefen Nerv getroffen. Ziele. Erfolg. Selbstbestimmung. Neues schaffen. Zeichen setzen. Unsterblichkeit. Relevanz. Sein Kopf fühlte sich seltsam hohl an.
»Und nun fragen Sie mich, wer die Geschicke lenkt. Sie tun es, Monsieur Michaut. Und dennoch in einem höheren Sinne. Unsere Leben sind nur ein Augenzwinkern in der Menschheitsgeschichte, entsprechend klein ist der Ausschnitt, den wir sehen und den wir wirklich beeinflussen. Nur wer Hunderte oder Tausende von Jahren leben würde, der könnte ganze Strömungen auslösen und entwickeln, einzelne Geschicke lenken, Ideen säen, dafür sorgen, dass Gedankengut auf fruchtbaren Boden fällt und sich verbreitet. Daher gibt es Kräfte im Verborgenen, die nur deswegen ihre Ziele verfolgen können, weil sie über so lange Zeit hinweg existieren. Wir bemerken weder ihr Wirken, noch haben wir eine Beziehung zu ihren Zielen. Aber das liegt einzig an unserer Perspektive. Es ist wie mit der Erde: Wir spüren nicht, dass sie sich unter uns bewegt, und doch tut sie es. Manche Dinge sind zu groß, als dass wir sie sehen könnten. Vor dem Hintergrund der Geschichte bewegen wir uns zu schnell, und einige Dinge sind zu langsam für unsere Wahrnehmung. Das Priorat von Zion ist eine solche langsame, große Kraft.«
Michaut massierte sich eine Schläfe. Vieles in ihm sträubte sich gegen die Ausführungen des Alten. Sie zeichneten ein Bild jenseits jeder sicheren, ihm bekannten Realität. Zugleich war es aufregend. Es war ein Gemälde so ungeheuren Ausmaßes, dass vor ihm jedes menschliche oder politische Bemühen nur wie ein unbedeutender Pinselstrich erschien. Und doch fügte sich alles in ein übergeordnetes, unsichtbares Konzept. Es war erhebend und deprimierend zugleich; eine Art religiöse Ergriffenheit hatte ihn erfasst. Und gerade das machte ihn umso stutziger. Konnte es sein, dass der Alte ihn derart zu beeinflussen vermochte? Wie viel von dem, was er sagte, war einfach nur blanker Irrsinn? Verschwörungsfantasien eines Greises, der sich durch sein Alter Respekt verschaffte und mit seinen Worten Ehrfurcht erschlich? Andererseits kannte der Graf ihn und hatte diese Begegnung arrangiert. Der Graf! Wie sehr ließ er, Michaut, sich vom Grafen manipulieren? War es vielleicht der Graf, der ein Spiel mit ihm trieb? Michaut griff nach der Flasche und schenkte sich Wasser ein.
»Sie scheinen nicht überzeugt?«, fragte der Alte. Es war eher eine Feststellung. »Nun gut, nehmen wir ein Beispiel: Ende der fünfziger Jahre war Frankreich in einer schweren Krise. Immer wieder Zeiten ohne Regierung, die Parteien verfeindet, die französischen Kolonien in Indochina blutig verloren und kurze Zeit später das Aufbegehren der algerischen Nationalisten, die die Unabhängigkeit forderten und eine eigene Regierung
Weitere Kostenlose Bücher